„Du bist nicht das, was du vorhast, sondern das, was du tust.“ C.G.Jung
Sehr geehrte Verantwortliche im österreichischen Bildungssystem!
Zwischen den Zielen und den Ergebnissen des österreichischen Bildungssystems klafft eine große Lücke. Jahrzehntelang ging man davon aus, dass diese Lücke allein durch höhere Investitionen zu schließen wäre: Mehr Geld für neue Schulen, mehr Personal, mehr Schulfächer, mehr Betreuungsangebote usw. Es ist verständlich, wenn Sie, als im Bildungswesen tätige Beamtinnen und Beamte, sich traditionell vor allem mit Gesetzesvor- haben beschäftigen, die auf eine Ausweitung staatlicher Betreuungsangebote abzielen (das Recht auf Krippen- plätze, ein weiteres verpflichtendes Kindergartenjahr, Ganztagsschulen, Ferienbetreuung, Bildungspflicht bis 18 usw.) Von der Mehrheit werden solche Maßnahmen als gesellschaftlicher Fortschritt betrachtet, was in vielen Fällen ja auch zutrifft, denn natürlich gibt es GewinnerInnen dieser Entwicklung. Sie selbst gehören höchstwahrscheinlich zu den vielen Menschen, die mit Schule überwiegend positive persönliche Erinnerungen verbinden. Der Schulunterricht hat Sie auf Ihre Karriere als Staatsbedienstete gut vorbereitet, und die Ausweitung von Betreuungszeiten, Kontrollen, Evaluierungen usw. verbessert Ihre Karrierechancen.
Schauen Sie sich die Zahlen und Fakten (u.a. im offiziellen österreichischen Bildungsbericht) unvoreingenommen an, können Sie die Augen jedoch nicht vor der Tatsache verschließen, dass es offenbar eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen gibt, denen unser Bildungssystem nicht gerecht wird. Die wenigsten von ihnen können auf teure private Alternativen ausweichen. Da aber auch diese Kinder von Ihrem Wohlwollen abhängig sind, bitte ich Sie herzlich, gedanklich einmal die Perspektive zu wechseln und sich in die Lage der VerliererInnen unseres derzeitigen Bildungssystems hineinzuversetzen:
In die ganz Kleinen, die durch eine zu früh unterbrochene Elternbindung nachhaltige emotionale Schädigungen davontragen. In die sensiblen Sonderlinge, die sich aus unterschiedlichen Gründen im Kindergarten, am Spielplatz und im Klassenzimmer als Außenseiter fühlen. In der Norm nicht entsprechende Kinder mit dem Etikett „hochbegabt“, die im Unterricht aus Langeweile unglücklich sind. In der Norm nicht entsprechende Kinder mit dem Etikett „zu wenig begabt“, deren Selbstbewusstsein in der Schule früh gebrochen wird. In die Bewegungsfreudigen, die sich ihre ganze Schulzeit hindurch wie Tiere im Käfig vorkommen. In Mobbing-Opfer und Mobbing-Täter, die beide ein gestörtes Sozialverhalten entwickeln. In die schulischen „Taugenichtse“, Schulverweigerer oder Schulabbrecher, deren handwerkliche, unternehmerische, soziale oder künstlerische Talente mangels entsprechender Entfaltungsmöglichkeiten im Bildungssystem unentdeckt bleiben und verkümmern. In die vielen engagierten Lehrpersonen, die sich dem schulischen Alltag nicht mehr gewachsen fühlen.
Wenn die Burnout-Raten unter Lehrern dramatisch ansteigen und laut MedUni Wien bereits 24,6% der 10- bis 18jährigen psychisch krank oder belastet sind, müssten doch auch bei Ihnen die Alarmglocken schrillen! Wären die betroffenen jungen Menschen in der Lage, die Ursache ihrer Probleme in Worte zu fassen, würden sie an erster Stelle den unerträglichen Stress nennen, in den sie durch standardisierte schulische und elterliche Erwartungen geraten. Bei eingehender Befragung würden auch PsychologInnen und TherapeutInnen bestätigen, dass es der der ansteigende schulische Normierungsdruck ist, der bestehende Belastungen verstärkt und weitere hervorruft.
Wenn ein Schulkind den österreichischen Steuerzahler im Schnitt mehr als €10.000 pro Jahr kostet und trotzdem 40% der PflichtschülerInnen nach 8 Jahren Unterricht nicht einmal „anschlussfähig“ lesen und rechnen können, wird es Zeit, die STRUKTUR unseres Bildungssystems in Frage zu stellen: Diese vielen „gescheiterten“ Jugendlichen sind nicht alle hoffnungslos dumm, noch hatten sie immer nur schlechte LehrerInnen oder sind Opfer verantwortungsloser bzw. bildungsferner Eltern! Ein so katastrophales Ergebnis wirft vielmehr die grundsätzliche Frage auf, wer sich hier wem anpassen muss: Sollen sich Lehrende und Lernende weiterhin den starren Vorgaben unseres Bildungssystems anpassen müssen? Oder wird dieses Bildungssystem endlich den realen Bedürfnissen der Menschen angepasst?
Wieso müssen sich erfahrene PädagogInnen gefallen lassen, dass ihnen die Politik ins Handwerk pfuscht? Obwohl die größte bisher durchgeführte Metaanalyse von John Hattie mit über 50.000 Einzelstudien ergab, dass Noten so gut wie nichts zum Lernerfolg beitragen, sollen österreichische LehrerInnen teils gegen ihre Überzeugung nun zwangsweise wieder kleine Kinder benoten? In den offiziellen schulischen Richtlinien hat der Gesetzgeber äußerst begrüßenswerte pädagogische Ziele festgeschrieben. Sollen diese Richtlinien – Kreativität, Potenzialentfaltung, Schulautonomie usw. – nichts als hohle Werbephrasen bleiben? Oder können sich die Eltern und die PädagogInnen, denen das Wohl der nächsten Generation anvertraut ist, tatsächlich danach richten und im Zweifelsfall darauf berufen?
Potenzialentfaltung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass jede/r einzelne Lernende bestmöglich dabei unterstützt wird, ihrem/seinem eigenen inneren Lernplan zu folgen. Wo immer Menschen dieses Konzept ohne faule Kompromisse umsetzen, machen sie sehr bald die Erfahrung, dass sich das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis dramatisch verbessert. An Kleinkindern haben die meisten von Ihnen sicher schon beobachten können, wie natürliche Lernprozesse ablaufen: Es braucht nichts als Liebe und Aufmerksamkeit, damit ein Baby krabbeln, gehen, sprechen lernt – jedes auf seine Weise, das eine früher, das andere später.
BildungsexpertInnen brauchen keine neuen Lösungen zu erfinden, denn es gibt sie schon – dank visionären Menschen, die erkannt haben, dass wir die Kinder von heute nicht mit den Methoden von gestern auf die Herausforderungen von morgen vorbereiten können. Es sind kluge, interessierte Menschen, die sich ernsthaft mit den Erkenntnissen aus Neurophysiologie und Kognitionswissenschaften auseinandergesetzt haben. Achtsame und mitfühlende Menschen, denen bewusst ist, dass jedes Kind einzigartig und unvergleichlich ist, weshalb jeglicher Normierungsversuch ihm Gewalt antut. Es sind aktive, engagierte Menschen, die nicht länger mit Zwang und Druckmitteln arbeiten wollen, sondern alles daran setzen, einladende Lern-Orte für jene zu schaffen, die im heutigen Schulsystem unter die Räder kommen.
Gegen alle Widerstände von außen haben einzelne PionierInnen bereits alternative Lernorte geschaffen, wo die Einsicht beherzigt wird, dass LEHREN und LERNEN leicht miteinander in Konflikt geraten können: LERNEN ist ein aktiver Prozess, ein durch intrinsische Motivation gesteuertes Zusammenspiel von Herz, Hand und Hirn. LEHREN hingegen macht andere zu passiven Objekten, sofern sie nicht selbst um Belehrung gebeten haben. Im täglichen Zusammensein mit Kindern, deren angeborene Wissbegier und Begeisterung sie unbedingt erhalten wollten, haben BildungspionierInnen erkannt, dass verbindliche Lehrpläne und vorgeschriebene Prüfungen über den „Schulstoff“individuelle Lernprozesse in vielen Fällen eher behindern als fördern (daher die hohen Ausfallsraten im herkömmlichen Schulsystem). Das Wissen der Menschheit vermehrt und verändert sich in atemberaubendem Tempo. Den Kindern von heute stehen Lernwege offen, von denen wir uns noch vor wenigen Jahren nichts träumen ließen. Wieso sollten wir diese vielfältigen Lernmöglichkeiten auf das Pauken von verstaubtem Schulstoff begrenzen?!
Immer wieder werden Reformen des Bildungswesens angekündigt, die Kreativität und Selbstverantwortung stärken sollen. Solche Reformen können nicht von oben verordnet werden. Sie müssen von unten kommen, von kreativen und selbstverantwortlichen Menschen, die bereit sind, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen. Bitte unterstützen Sie als Bildungsverantwortliche solche privaten Initiativen und seien Sie bereit, von ihnen zu lernen! So manches vielversprechende Projekt ist an Geldmangel und dem Unverständnis der Behörden bald wieder zugrunde gegangen. Bitte ändern Sie Ihre bisherige Gangart und entschließen Sie sich zur Kooperation mit reformpädagogischen Initiativen innerhalb und außerhalb des Schulsystems! Das österreichische Bildungswesen, eines der teuersten der Welt, wird um einen tiefgreifenden Wandel nicht herumkommen. Seine Zukunft liegt im Bekenntnis zur Vielfalt und in der fruchtbaren Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft.
Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die FREIE BILDUNGSWAHL zur Sicherung des Kindeswohls. Sie würde den Eltern ihre Verantwortung zurückgeben. Sie würde PädagogInnen anspornen, ihr Bestes zu geben. In herkömmlichen Schulen würde sich die Unterrichtsatmosphäre merklich entspannen, sobald die „Störenfriede“ auf alternative oder informelle Bildungswege ausweichen können. FREIE BILDUNGSWAHL würde den Behördenvertretern weitaus größere Handlungsspielräume verschaffen. Den Steuerzahlern würde sie für ihr Geld angemessene Ergebnisse liefern und den Arbeitgebern zu den motivierten, kreativen Mitarbeitern verhelfen, nach denen sie schon jetzt verzweifelt suchen. Vor allem aber hätte dann wirklich jedes Kind die Chance, sein individuelles Potenzial zu entfalten, indem es den oder die Bildungswege einschlägt, die seinen besonderen Begabungen und Bedürfnissen am besten entsprechen.
Alexandra Terzic-Auer, geb. 1952 in Wien. Lektorin, Übersetzerin, systemische Therapeutin. Mitglied im Verein „Jedes Kind“, der Janusz Korczak-Gesellschaft und dem Netzwerk der Freilerner. Jahrzehntelang habe ich das Schulsystem aus verschiedenen Perspektiven studiert – als Schülerin an 7 verschiedenen Schulen, als Mutter, Elternvertreterin, Nachhilfelehrerin, systemische Therapeutin und Erforscherin informeller Bildungswege. Mit dem Engagement für Freie Bildungswahl führe ich in gewisser Weise auch die Arbeit meines Vaters fort, der sich als Widerstandskämpfer unter weitaus schwierigeren und gefährlicheren Umständen für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat.