Lernwut

Lernen und Wut. Lernen und Frust. Entdecken und Erkennen von (mitunter auch körperlichen) Grenzen …. 
Ein Vorwurf, den man beim freien und selbstbestimmten Lernen immer wieder zu hören bekommt – vollkommen unbegründet wie ich gleich wieder einmal zeigen möchte – ist, dass kleine Menschen, wenn sie so lernen würden weder Frust noch Wut erfahren würden. Wie jemand auf die Idee kommt, dass derartiges nicht eintreten würde, weiß ich nicht wirklich. Denn Lernen beinhaltet immer die Möglichkeit von Wut und Frust. Auch, wenn frei und selbstbestimmt gelernt wird. Aber zugegeben, Wut und Frust kommen da eigentlich immer von innen und nicht – wie beim forcierten, belehrenden Lernen von außen durch Beurteilung und Maßregelung oder auch die „du kannst das eh nicht“-Botschaft.

ICH WILL DAS ABER KÖNNEN
Dicke Tränen rollen unserer Siebenjährigen über die Wange. Trost will sie keinen. Sie ist unendlich wütend. So wütend, dass ihr die Tränen gekommen sind. Ich will das aber können – schreit sie unter Schluchzern. Und mehr als dasein, kann ich in dem Augenblick nicht. Also sitze ich neben ihr, bis sie wieder aufspringt und weitermacht. Gnadenlos. Getrieben von ihrem inneren Wunsch nun endlich auch den Handstand zu können. Seit Tagen ist sie im Akrobatikfieber. Sie übt und übt und übt. Mit einem Buch aus unserem Bücherregal. Brücke, Kopfstand, Handstand, Spagat …. Alles, was sich zum Üben irgendwie eignet wird zweckentfremdet.
Zwei Tage, zahlreiche Tränen und blaue Flecken später …

zeigt sie mir mit einem strahlenden Lächeln, dass sie sich mittlerweile vom Kopfstand in den Handstand hochstemmen kann. Vergessen die Wut, vergessen die Tränen … solange, bis der nächste Schritt nicht so erreicht wird, wie sie sich das vorgestellt hat. Ich muss an unsere Älteste denken und ihr unermüdliches Üben, ihre Tränen und ihre Wut beim Einradfahren üben ….
Szenenwechsel: Unser Sohn will eine Geschichte schreiben. Ohne Rechtschreibfehler. Wenn es nicht gelingt wird er wütend. So wütend, dass er alles – die ganze Geschichte wieder ausradiert oder den Zettel mitsamt seiner Geschichte einheizt. Aber Fehler machen gehört doch dazu zum Lernen …. mein vorsichtiger Versuch ihn zu Trösten misslingt gewaltig. Seine Wut steigert sich nur noch. Ich will aber keine Fehler machen!!!!! Ich will das Können! Verstehst du?

Ja ich verstehe. Sehr gut sogar. Es macht mitunter schrecklich wütend, wenn etwas nicht so gelingt, wie man sich das gedacht oder vorgestellt hat. Und da helfen auch keine beschwichtigenden Worte und schon gar keine guten Ratschläge.

Der kleine Unterschied
Wut und Frust tauchen da wie dort auf. Beim freien und selbstbestimmten Lernen ebenso, wie beim forcierten Lernen. Der Unterschied besteht aber darin, dass bei Letzterem Wut und Frust dazu führen, dass das Interesse, sofern es überhaupt bestanden hat schwindet. Ganz anders beim freien und selbstbestimmten Lernen. Spannend ist da immer wieder für mich, dass Wut und Frust oftmals den Ehrgeiz noch steigern. Fast schon ins Unerträgliche – zumindest für uns Großen, die dabei zuschauen. Und das trotz aller Wut einfach stur weitergeübt wird. Das sich die Kleinen nicht einfach damit zufrieden geben, dass es noch nicht klappt oder nicht so, wie sie sich das vorgestellt haben.  Ich will das aber Können. Ich will nicht aufhören! Ich will einfach so lange üben bis ich es kann.

Aber kann man da nicht irgendwie helfen?
Der Impuls ist da – natürlich. Wenn dein Sohn oder deine Tochter mit dicken Tränen vor dir stehen, wenn du weißt oder siehst, wo es hängt, wenn du siehst, dass nur mehr ein kleines Stückchen bis zum Können fehlt …. dann willst du etwas tun. Du willst diesem kleinen Menschen ganz unbedingt „helfen“. Und ja, natürlich, ich kann beim Handstand üben ebenso begleiten wie beim Rechtschreiben lernen …. aber den Lernprozess abnehmen? Das Verstehen/Erkennen/Entdecken?
Das geht nicht. Und wie schon weiter oben geschrieben. Gute Ratschläge und beschwichtigende Worte sind nicht immer hilfreich.
Dann mach halt mal eine Pause habe ich unserer Ältesten damals beim Einradfahren ans Herz gelegt. Aber sie wollte keine Pause machen. Ähnlich wie ihre kleine Schwester jetzt gerade oder ihr Bruder, wenn er eine Geschichte schreiben möchte – fehlerfrei.
Voller Hürden und manchmal auch Misserfolgen kann das Lernen sein. Voller Momente in denen Wut und Frust wesentlich größer sind, als das Glücksgefühl. Und trotzdem. Trotzdem scheint die Freude so oft ungebrochen. Trotz aller Tränen und der vielen Momente in denen es nicht so klappt, wie man will ….
Und tun? Tun können wir nicht wirklich etwas. Außer da zu sein. Zuzuhören. Mit offenen Ohren und Armen, die den kleinen Menschen halten, wenn er es braucht. Und zuzuschauen. Später dann, wenn es klappt und wir uns miteinander freuen können.
Denn trotz aller Wut und dem größten Frust – diese Momente unendlicher Freude und unendlichen Glücks erlebe ich ebenso oft. Wenn das was erreicht werden möchte endlich geschafft wird. Aus eigener Kraft. 🙂

 

erstmals veröffentlicht auf https://linilindmayer.com