Freilernen – ein Begriff, der häufig viele Fragen offenlässt. Das ABC des natürlichen Lernens sammelt und erklärt die wesentlichen Begriffe des Freilernens.
HEIDRUN KRISA & SUSANNE SOMMER
H wie Homeschooling/Häuslicher Unterricht
Im englischsprachigen Raum heißt es Homeschooling; in Österreich »Häuslicher Unterricht«. Beide Begriffe beschreiben punktgenau, was damit gemeint ist: Schule zu Hause. Der staatliche Lehrplan wird also nicht im Schulgebäude vermittelt, sondern eben »in den eigenen vier Wänden«. Unterrichtet wird von den Eltern oder von eigens beauftragten Privatlehrer:innen. Dieser Rahmen bietet mehr Flexibilität und Spielraum für den jungen Menschen. Auch für seine Eltern. Ja für die gesamte Familie. Der Unterricht kann an die individuellen Tagesstrukturen und Ressourcen angepasst werden. Ein individuelleres Eingehen auf die Persönlichkeit und die Bedürfnisse des jungen Menschen ist eher möglich. Die ruhige Lernatmosphäre ist gewiss auch ein Pluspunkt.
Mit Freilernen hat diese »Bildungsoption« allerdings sehr wenig oder nichts zu tun. Zwar spielen auch beim Freilernen Flexibilität, familiengerechte und -individuelle Strukturen eine Rolle. Allerdings wird beim Freilernen keinerlei »Lernstoff« vorgegeben. Das Freilernen zeichnet sich genau durch das Fehlen eben jener Vorgabe aus. Der junge Mensch gibt Thema und Tempo vor. Und zwar nicht »auf Knopfdruck«, nach einer Art Plan, sondern organisch, aus ihm selbst entspringend und nach Außen drängend. Die Eltern gehen auf diese zutiefst individuellen Äußerungen ein, indem sie Platz machen. Für das, was in dem ihnen anvertrauten jungen Menschen »gerade dran ist«. Sie gestalten die Umgebung, die Rahmenbedingungen, sie unterstützen mit Materialien und mit ihrem puren und ehrlichen Interesse. Von dieser intrinsischen Motivation ausgehend, ergibt dann ein Schritt den anderen. Und auf wundersame Weise – ja, keiner dieser Prozesse ist vervielfältigbar; bei jedem Menschen läuft das Lernen völlig unterschiedlich ab – erwirbt der junge Mensch alles, was er für seine Entwicklung braucht. Das schließt auch den so genannten Schulstoff ein. Allerdings noch so viel mehr. Auf jeden Fall eine tiefe, eigenmotivierte und ungebremste Freude am Lernen. Homeschooling ist in vielen Ländern offiziell möglich. Offiziell anerkanntes Freilernen beschränkt sich derzeit auf den englischsprachigen Raum.
H wie Haltung
Auf die Haltung kommt es an. Ein sehr bekannter Ausspruch. Er passt zu vielen Lebenslagen. Und ist vor allem dann wichtig, wenn wir Menschen uns als selbstbestimmt erleben möchten. Sobald wir Haltung zu einem Thema ausbilden, sind wir als Individuen greifbarer, spürbarer. Mehr wir selbst. Eine sinnvolle Sache. Auch beim Freilernen spielt die Haltung eine große Rolle. Und zwar die Haltung der Eltern oder eben jener Menschen, die mit dem jungen Menschen in Verbindung stehen. Diese Haltung lässt sich gar nicht so einfach in Worte fassen. Wie immer im Leben müssen wir etwas selbst erleben, unsere eigenen Schritte machen, einen nach dem anderen, um die Haltung, die wir vielleicht in der Theorie anstreben, wirklich erspüren und letztendlich tatsächlich leben zu können. Ein lohnender und notwendiger Weg. Geht es doch um unsere Söhne und Töchter. Unsere Nachfahr:innen. Um jene Menschen, die einst »unser Erbe auf diesem Planeten antreten werden«.
Johann Wolfgang von Goethe sagte: Die bedeutendste Epoche eines Individuums ist die der Entwicklung. Wenn uns das bewusst ist, wollen wir als Eltern oder Begleiter: innen junger Menschen deren Entwicklung natürlich in jeder Lebensphase optimal unterstützen. Und zwar die individuelle Entwicklung. Dann ist uns wichtig, dass der junge Mensch in seiner Persönlichkeit gesehen und geachtet wird. Dass er nicht manipuliert, gedrängt, übergangen wird. Dann ist uns wichtig, dass wir ihn zu keinen Schritten zwingen, zu denen er nicht bereit ist. Dann ist uns bewusst, dass weder Lob noch Strafe sinnvoll und hilfreich in der Entwicklung der uns anvertrauten jungen Menschen ist. Dann ist uns bewusst, dass unsere Aufgabe mehr im Begleiten und Ermöglichen liegt, anstatt im Belehren und Vorgeben. Dann ist uns bewusst, dass unsere eigene gesunde Ent-Wicklung eine Voraussetzung für jene unserer Söhne und Töchter ist. Dann ist uns bewusst, dass wir deren Bedürfnisse (seien das Schlaf, Pausen, Talente, Interessen etc.) achten wollen und müssen, damit sie in ihrem Tempo wachsen können. Diese Haltung liegt dem Freilernen zugrunde. Es ist eine gewaltfreie, unterstützende, wohlwollende und respektvolle Haltung. Eine freudvolle Achtung der Einzigartigkeit und Besonderheit eines jeden einzelnen Menschen.
H wie Herzensbildung
In den letzten Jahren erlebte der Begriff der »Herzensbildung « einen starken Aufschwung. Immer mehr Stimmen der Kritik und Unzufriedenheit an und mit dem regulären Schul- und Bildungssystem wurden laut. Auch aus den »eigenen Reihen«. Denn es wird immer klarer, dass das starre Eintrichtern von vorgegebenen Lehrplänen – verabreicht an mindestens zwanzig gleichaltrige »Kinder-Individuen« zur selben Zeit – nicht funktioniert. Und vor allem auch nicht zielführend ist. Das alles führt zur Frage, was denn Bildung eigentlich ist. Die Bildung eines Menschen – das Wort beinhaltet den Prozess, wie sich ein Mensch »ausbildet«, wie er »aufgebaut wird«, wie er wächst, sich aufstellt, erweitert, sich ins Leben hineinentwickelt.
Kann es sich dabei also wirklich nur um die Anhäufung von Faktenwissen handeln, so wie es im regulären Bildungssystem seit Jahrzehnten passiert? Ist Bildung nicht viel mehr? Oder: Sollte sie nicht viel mehr sein? Letztendlich ist das Allgemeinwissen wohl nur ein sehr kleiner Bruchteil vom »großen Ganzen«, viel wichtiger sind das Begreifen des individuellen Selbst, das Ausbilden eigener Betrachtungen der Welt, soziale Kompetenzen uvm.
Es geht um die Bildung von Respekt, Mitgefühl und Verbundenheit. Das lässt sich aber nicht in »schulische Lehrpläne« packen. Als Unterrichtsfach. Das muss organisch aus dem Leben heraus entstehen. Indem man junge Menschen genau dort leben und Erfahrungen sammeln lässt: im realen Leben. Und sie mit der Haltung begleitet, die man sich für sich selbst und das Fortbestehen des Lebens auf diesem Planeten wünscht. Freilernen kann »nachhaltiges Lernen hin zu individuellem und globalem Frieden« sein. Das Herz, die Fähigkeit zum liebevollen Umgang miteinander, wird »organisch mit- und ausgebildet«.