Freilernen – ein Begriff, der häufig viele Fragen offenlässt. Das ABC des natürlichen Lernens sammelt und erklärt die wesentlichen Begriffe des Freilernens.
HEIDRUN KRISA & SUSANNE SOMMER
G wie Gleichwürdigkeit
Wir alle kennen den Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und erkennen damit an, dass wir die Würde eines anderen Menschen achten. Das gilt für Menschen jeden Alters und setzt voraus, dass wir uns unserer eigenen Würde bewusst sind. Es bedeutet, dass wir uns in unserem Leben als respektierte Subjekte wahrnehmen, dass wir uns aus uns selbst heraus wertvoll und bedeutsam fühlen und Gestalter unseres Alltags sind. Genau diese wichtigen Erfahrungen brauchen junge und heranwachsende Menschen, um ihrerseits andere Menschen respektvoll und gleichwürdig zu behandeln.
Deshalb ist es so wichtig, dass sie diese würdevollen Erfahrungen in ihrem Alltag machen können. Das Freilernen unterstützt diesen Prozess, indem jungen Menschen zugetraut wird, dass sie ihre Schritte in eigenem Tempo machen und nicht zu Objekten von Vorstellungen, Absichten, Bewertungen und Maßnahmen von Erwachsenen werden. Der junge Mensch erlebt sich selbst als Gestalter seines Lernprozesses und hat gleichzeitig die Möglichkeit, ein Bewusstsein für seine Würde als vollwertiger Mensch zu entwickeln. Junge Menschen, die sich selbst so erleben dürfen, haben nicht das Verlangen, andere Menschen abzuwerten oder auf deren Kosten ihren eigenen Erfolg zu verwirklichen.
Sie sind vielmehr gewohnt, mit allen Menschen auf Augenhöhe zu sprechen und deren jeweilige Bedürfnisse ernst zu nehmen. Darin liegt ein großes Potential für unsere Gesellschaft, um auf wunderbare Art und Weise die Entwicklung und Eskalation von Ausgrenzung und Diffamierung in so vielen Bereichen stoppen zu können. Junge Menschen, die sich ihrer Würde bewusst sind, werden nicht zu willenlosen und willfährigen Adressaten einer entgleisten Konsumgesellschaft, sondern können bewusst und selbstverantwortlich entscheiden, was für sie wichtig und wertvoll ist. Sie brauchen Defizite nicht mit Konsumieren kompensieren und werden sich stattdessen für echte Werte in unserer Gesellschaft einsetzen.
G wie Gewalt
Gewalt macht nie etwas Gutes, das ist uns allen bewusst. Dennoch ist sie in unserem Alltag allgegenwärtig. Immer dann, wenn Menschen zu etwas gezwungen werden, was für sie nicht passt, ist Gewalt im Spiel. Manchmal kommt sie sehr subtil daher und versteckt sich hinter manipulativen Verhaltensweisen. Auch dadurch werden Menschen gegen ihren ausdrücklichen Willen zu etwas veranlasst, was sie freiwillig nicht tun würden. Warum ist das so? Warum leben wir in einer Gesellschaft, in der Gewalt gegen Menschen akzeptiert ist? »Weil es schon immer so war«, kommt mir als Antwort in den Sinn.
Tatsächlich werden schon unsere Jüngsten einem Alltag untergeordnet, der ihre wichtigen Bedürfnisse nach Individualität, Ruhe, Forschergeist, Zugehörigkeit und Beständigkeit verletzt. Allzu oft werden sie aufgeweckt, ihre Bezugspersonen wechseln plötzlich und sie werden aus den Tätigkeiten gerissen, in die sie gerade vertieft sind. Ja, auch das ist Gewalt. Sie setzt sich fort, wenn junge Menschen öffentlichen Lehrplänen unterworfen werden, die nichts mit dem zu tun haben, was sie wirklich interessiert. Wenn über viele Jahre hinweg Tempo und Themen aufgezwungen werden und mittels Bewertung mit dem Selbstwertgefühl des jungen Menschen verknüpft werden, dann verliert dieser Mensch das Gefühl für sich selbst. Er ist selbst nicht mehr in der Lage zu spüren, was ihm guttut, was ihn interessiert und was er mit seinem Leben anfangen möchte.
Er ist entwurzelt und seiner selbst entfremdet. Ist nicht genau das, das große Problem unserer Zeit? Jungen Menschen, die als Freilerner aufwachsen, bleiben diese traumatischen Erfahrungen erspart. Sie folgen idealerweise ihren eigenen Impulsen und erschaffen sich ihr Wissen und ihre Begeisterung von selbst. Diese Menschen sind nicht Opfer der üblichen strukturellen Gewalt, und sie werden dadurch auch keine Täter! Sie unterbrechen den Teufelskreis und sind die Samen für ein neues, konstruktives Zusammenleben.
G wie Ganzheitlichkeit
Wir leben in einer hochspezialisierten Welt. Die jeweiligen Fachgebiete sind unüberschaubar, und für alles und jedes werden sogenannte Experten zu Rate gezogen. Das sind Menschen, denen wir vertrauen müssen, dass sie das Richtige tun, wenn sie Entscheidungen treffen. Ich (Heidrun Krisa) betrachte Arbeitsteilung als etwas Sinnvolles, aber dennoch möchte ich in jenen Bereichen, die mein Leben betreffen, selbst denken, mir ein eigenes Bild machen und auch meine eigene Entscheidung treffen können. Gerade dann, wenn es immer detaillierteres Wissen gibt, braucht es die Fähigkeit, dieses Wissen in ein größeres Ganzes einordnen zu können. Denn sonst hilft uns das Detailwissen nicht, sonst verzetteln wir uns in Einzelheiten.
Wie schaffen wir es, die Ganzheit wieder in den Fokus zu rücken und den Heranwachsenden in unserer Gesellschaft eine Anbindung an ein stärker ganzheitliches Denken zu vermitteln? Der einfachste Weg scheint, die jungen Menschen von klein auf in unser Leben einzubinden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich meine damit nicht, dass wir schon die Jüngsten in einen durchgetakteten und stressreichen Alltag integrieren. Nein, ich meine vielmehr, dass wir uns darauf besinnen, wie wir unser Leben gestalten können, damit sowohl die jungen Menschen als auch wir Großen gute Erfahrungen miteinander machen können. Babys und Kleinkinder haben biologische Taktgeber, und wir können sie wunderbar nutzen, um selbst ein paar Gänge hinunterzuschalten und gemeinsam Schritt für Schritt die Welt zu erkunden.
Im Zuge dieser organischen Entwicklung, bei der der junge Mensch wie selbstverständlich seinem inneren »Lehrplan« folgt, ist es ganz natürlich, dass der jeweils nächste Schritt erst gemacht wird, wenn der vorige abgeschlossen ist. Neue Erfahrungen können nur dann als hilfreiche Erkenntnisse verwertet werden, wenn im Gehirn dafür Anknüpfungspunkte gefunden werden, wenn das Erlebte andocken kann. Und ganz wichtig sind auch ausreichend Pausen und Ruhephasen, damit die gesammelten Informationen gut verarbeitet werden können. Unser menschliches Gehirn ist aber kein reiner Datenspeicher im herkömmlichen Sinn, sondern etwas ganz Besonderes: In dieser Denkzentrale laufen die Fäden dafür zusammen, dass wir in der Lage sind, unsere Welt ganzheitlich zu erfassen! Wir nehmen mit all unseren Sinnen wahr und merken uns das auch am besten, wenn wir selbst tätig sind. Reiner Frontalunterreicht geht, wie viele von uns aus eigener, leidvoller Erfahrung wissen, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.
Ganz besonders dann, wenn die Informationen nicht in Resonanz mit den Interessen des jeweiligen Menschen gehen. Ein weiterer Punkt, der für unseren ganzheitlichen Freilerner:innen-Alltag relevant erscheint, ist die Tatsache, dass wir nicht in vorgefassten Kategorien denken. Wir teilen das, was wir tun und erfahren nicht in »Schulfächer« ein. Alle Fähigkeiten, zu denen auch Rechnen, Schreiben und Lesen zählen, werden ganz natürlich und nebenbei erlernt und unterliegen keiner gesonderten Bewertung. So reihen sie sich ein in die große Zahl von Kompetenzen, die junge Menschen sich selbst und ohne Druck von außen aneignen, wenn man sie denn lässt. Das Ergebnis ist vielversprechend: Menschen, die so aufwachsen, vertrauen auf sich selbst und ihre eigene Urteilsfähigkeit. Sie sind in der Lage, kritisch abzuwägen und verschiedene Standpunkte in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise wird für sie zur Selbstverständlichkeit.
G wie Geduld
Als mein Sohn (Heidrun Krisa) klein war, vermisste ich bei seinem Spiel die tiefe Versunkenheit, die ich vom Spiel anderer Kinder kannte. Er ließ sich sehr leicht ablenken und blieb nicht allzu lange bei einer Sache, vor allem dann nicht, wenn nicht auch ich selbst meine Aufmerksamkeit dabeihatte. Dann hielten eines Tages PESTAS-Steine Einzug in unsere Spiele-Vielfalt. Das sind von der Art her Dominosteine, allerdings etwas größer und aus Holz gebaut. Man kann sie in Reihe aufstellen und durch den Dominoeffekt umfallen lassen. Die Möglichkeiten an Mustern, Formen und kreativen Bauwerken, die im Anschluss an das Aufstellen wieder zu Fall gebracht wurden, waren grenzenlos. Mein Sohn tauchte ein in die PESTAS-Welt und baute immer längere und kompliziertere Bahnen und Kunstwerke quer durch die ganze Wohnung. Manche Zimmer durften dadurch eine Zeitlang nicht betreten werden. Das erklärt sich so, dass die Bahnen sehr sensibel auf Erschütterung reagierten und leicht vorzeitig umfielen. Anfangs reagierte mein Sohn ärgerlich auf derartige »Umfälle«, die nicht seinem Plan entsprachen. Aber zunehmend entwickelte er eine meisterhafte Geduld im Umgang mit Irrtümern und Fehlstarts. Es war für mich und auch andere Menschen erstaunlich, wie gefasst und ruhig er auf derartige Ärgernisse reagierte. Vor allem hatte er sich selbst eine Gelegenheit erschaffen, bei der er ein Verhalten trainierte, das ihm zuvor schwergefallen war. Und wir Großen – dürfen uns in Geduld üben, dass unsere Kinder genau das zu ihrer Zeit lernen, was sie brauchen.