Voraussetzungen für informelles Lernen

Warum es so sehr auf die Haltung ankommt

Aktuell werden viele konkrete Vorschläge gemacht, die zu einer po- sitiven Veränderung im Bildungswesen beitragen sollen. Solange aber keine Klarheit darüber besteht, dass die wirkliche Veränderung im Umgang mit den jungen Menschen passieren muss, wird es hier zu keinem nachhaltigen Wandel kommen.

von: SIGRID HAUBENBERGER-LAMPRECHT

Eigentlich ist es ganz einfach

Wir brauchen »nur« eine radikal andere Haltung gegenüber jungen Menschen einnehmen und sie als gleichwürdige und gleichwertige Mitmenschen anerkennen. Daraus ergibt sich ein völlig anderer Umgang im Miteinander, der sich auch auf die Art und Weise der Bildung auswirkt. Wenn von Freilerner-Familien die Rede ist, sollte es also in erster Linie nicht darum gehen, dass deren Kinder keine Schule (mehr) besuchen, sondern dass die begleitenden Erwachsenen, in dem Fall die Eltern, erkannt haben, dass der junge Mensch das gleiche Recht hat, seinen Bedürfnissen nachzugehen, wie die Erwachsenen. Der junge Mensch übernimmt somit selbst die Verantwortung für seine Bildung.

Sehr oft jedoch wird nach wie vor ganz selbstverständlich über Kinder bestimmt: Sei es, wann und wieviel sie essen und trinken, welche Kleidung sie anziehen, welchen Tätigkeiten sie nachgehen und was, wann, wo und wie sie lernen sollen.

Wie aus diesem Rad aussteigen?

Dazu braucht es die Bereitschaft der Erwachsenen, die bisherige (Lern-)Begleitung unserer Kinder zu hinterfragen.

Vor allem die sehr jungen Menschen bedürfen unserer Fürsorge und Unterstützung beim Heranwachsen. Sie können gerade in den ersten Jahren nicht ohne diese überleben. So sind wir zum Beispiel dafür verantwortlich, dass sie ausreichend Nahrung bekommen. Bereits ab dem ersten Tag nach der Geburt teilt der Mensch seine jeweiligen Essbedürfnisse auf seine eigene Art und Weise mit. Wir Erwachsenen müssen nun die nonverbale Sprache verstehen lernen. Dadurch wissen wir, ob dieses oder ein anderes Bedürfnis wie etwa Nähe oder Ruhe gestillt werden will.

Für die meisten Erwachsenen ist es selbstverständlich, diesen lebenswichtigen Bedürfnissen des Säuglings nachzukommen. Ebenso vertrauen wir in dieser Zeit auf das »natürliche« Wachstum. Wir vertrauen darauf, dass der »kleine« Mensch, sich ohne unser Zutun vom Rücken auf den Bauch dreht, in seiner Zeit in den Vierfüßlerstand kommt und irgendwann, ebenfalls zu seinem »richtigen« Zeitpunkt, die ersten Schritte macht. Doch je älter dieser »kleine« Mensch wird, desto leichter verlieren wir das Vertrauen, dass diese von Innen gesteuerten Entwicklungsprozesse weitergehen. Die meisten Erwachsenen machen spätestens dann eine Kehrtwende in der Begleitung, wenn es um die formale Bildung geht, sprich: die Kinder in das schulpflichtige Alter kommen. Um den jungen Menschen bestmöglich auf sein zukünftiges Leben vorzubereiten (allzu oft wird der Begriff »Leben« mit Erwerbstätigkeit gleichgesetzt), wird vorgegeben, was er sich wann, wo und wie bis zum Ende der Schullaufbahn beziehungsweise bis zum Beginn der Ausbildung anzueignen hat. Groß ist die Angst, sollte er »nur« seinen eigenen, inneren Lern- und Entwicklungsprozessen folgen, dass er dann später im Berufsleben auf der Strecke bleibt und dadurch aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird.

Die Realität stellt sich jedoch ganz anders dar: Wenn wir es schaffen, dem (jungen) Menschen vollkommen zu vertrauen, sodass er seiner Begeisterung folgt, dann dürfen wir staunen, was möglich ist. Tatsächlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, sich ein Bild von der Welt zu machen und sich auf seine ganz eigene Art in diese Welt einzubringen.

Dabei ist Folgendes essenziell: Ein Mensch, der nicht in seinen Lernprozessen unterbrochen wird, findet seine ganz persönlichen Leidenschaften. Aus diesen Leidenschaften können sich Kompetenzen entwickeln, die zu einer Erwerbsarbeit führen können, die diesen Menschen wirklich erfüllen. Und so soll es doch sein: dass wir die Arbeit mit Freude tun.

Ich sehe das mittlerweile selbst, bei unserem Sohn. Ohne Institution Schule aufgewachsen (nur das letzte Pflichtschuljahr absolvierte er aufgrund unseres Obsor- ge-Verfahrens an einer Freien Schule), konnte er uneingeschränkt seinen Begeisterungen folgen. Sowohl von zu Hause aus als auch bei von ihm ausgesuchten Menschen, die ihm ihr Wissen weitergaben. Ganz viel von diesem Lernen passierte für uns sichtbar, ganz viel auch für unsere Augen unsichtbar. Töpfern, Jodeln, Detektivarbeit, Fotografie, Filme drehen und schneiden, die Mitgliedschaft bei der Feuerwehrjugend sind einige dieser »sichtbaren« Leidenschaften. Viele davon waren eingebettet in ein Spiel oder wurden durch ein Spiel angestoßen.

Mit zwölf Jahren entdeckte er seine Liebe zur Elektronik. Er eröffnete einen YouTube-Kanal, durch den er anhand der präsentierten Projekte sein erworbenes Wissen vertiefte und teilte. Die dabei erworbenen Kompetenzen halfen ihm bei der Zusage einer Lehrstelle zum Energie-Elektrotechniker und Mechatroniker. Das Thema lässt ihn nach wie vor auch in seiner »Freizeit« nicht los: Das in der Lehre vermittelte Wissen wird angewendet, vertieft, und eigene Ideen und Projekte werden entwickelt. So wie es keine Trennung zwischen Lernen und Spiel gibt, gibt es für (junge) Menschen, die ihrer Berufung nachgehen, auch keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit.

Lernprozesse und der »Flow«

Der sogenannte Flow-Zustand bedeutet, sich auf ein Thema, ein Spiel so einzulassen, dass alles herum vergessen wird und man vollständig in seinem Tun aufgeht.

Einer der ersten für uns sichtbaren Lernprozesse beim Säugling ist, wenn dieser seine eigene Hand entdeckt. Immer wieder bin ich fasziniert, wenn ich so kleine Menschen bei diesem Sich-Begreifen beobachten darf. Oder wenn zum ersten Mal aus Bauklötzen ein Turm aufgeschichtet wird. Großer Respekt vor dem Wunder Leben macht sich dann jedes Mal in mir breit. Und wer bin ich, diesen Flow zu unterbrechen, den Säugling aus seiner Konzentration zu reißen, um ihm zum Beispiel die Funktion seiner Hand zu erklären oder das Kleinkind dezent darauf hinzuweisen, dass der Turm nicht einstürzen wird, wenn es den Baustein ein bisschen weiter in die Mitte legt? Auch wenn es gut von mir gemeint ist, bringe ich den Menschen doch von seinem eigenen Entdecken, seinen eigenen Erkenntnissen ab.

Um also im Flow-Zustand verbleiben zu können, braucht es Erwachsene, die darum wissen und aufgrund ihrer gleichwürdigen und -wertigen Haltung einen Raum schaffen (sei es innerhalb der Familie oder an einem extra »Lernort«), wo es möglich ist, dem inneren Wissensdrang uneingeschränkt und unbewertet zu folgen. Diesen Flow zu erfahren bedeutet ein völlig neues Lebensgefühl, das sich die meisten von uns Erwachsenen erst wieder aneignen dürfen (wenn sie dies wollen).

Haltung und Vertrauen

Es wird ersichtlich: Für einen Wandel in der Bildungslandschaft braucht es zuerst einen Wandel in der Art und Weise, wie wir jungen Menschen begegnen. Neben der Haltungsänderung braucht es Vertrauen in die angelegten Entwicklungsprozesse. Anders ausgedrückt: Es braucht eine tiefe Überzeugung, dass der Mensch bereits »vollständig« auf diese Welt kommt und sich hier »nur« noch zu entfalten braucht. Meiner Meinung nach ist es hier wie mit der berühmten Frage: Was war zuerst da? Henne oder Ei? Eine Haltungsänderung ohne Vertrauen in die angelegten Entwicklungsprozesse ist ebenso wenig möglich wie umgekehrt.

Haltung und Vertrauen sind Ist-Zustände. Um dorthin zu gelangen und dort auch dauerhaft zu bleiben, braucht es die Bereitschaft, eigene Denkmuster und althergebrachte Glaubenssätze zu hinterfragen. Wir dürfen lernen, Regeln, die noch für uns Gültigkeit hatten, loszulassen. Uns wirklich freizumachen, um mit Lust und Freude gemeinsam mit unseren Kindern neue Lernwege zu beschreiten.

Manchmal helfen dabei wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, was es zum nachhaltigen Lernen braucht: Derzeit wird unter Lernen oft nur noch »Bulimielernen« verstanden. Ein Ausdruck, den unter anderem Gerald Hüther, Prof. für Neurobiologie, geprägt hat: Das erlernte Wissen wird »reingestopft«, um bei der Prüfung »rausgekotzt« und im Anschluss wieder vergessen zu werden. Nachhaltiges Lernen bedeutet, dass das angeeignete Wissen sich tief im Menschen verankert und somit immer abrufbar bleibt.

Die Liste der unten angeführten Punkte, die es dazu braucht, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann gerne ergänzt werden:

  • Autonomie – der junge Mensch entscheidet selbst, womit er sich wann, wie und wie lange auseinandersetzt: Seit den 1960er Jahren erforschen und beweisen die unterschiedlichen Kognitionswissenschaften, dass Lernen eine hochgradig persönliche, individuell durchzuführende, eben autonome und kreative Tätigkeit ist. Dabei müssen die Lernenden selbst in den Mittelpunkt gestellt werden: Sie sollen das eigene Lernen selbstverantwortlich in die Hand nehmen können. Die Linguistin Ute Rampillon weist darauf hin, dass »Schülerinnen und Schüler, die autonom lernen wollen, […] die dazu notwendige ›Luft‹ zum Lernen [brauchen]. Sie brauchen den Freiraum, um selber zu entscheiden, ob, was, wann, wie, wozu sie lernen wollen«. Mit diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über die zwangsläufige Autonomie des Lernens ist es tatsächlich inkompatibel, dass eine andere Person als der Lernende selbst, sich anmaßt, in den Lernprozess eingreifen zu wollen und zu können.
  • Entspannte Umgebung – ohne Angst, Druck, Bewertung: Wir wissen heute, dass die Emotion, in welcher ein gewisses Thema gelernt wurde, ebenso abgespeichert wird. Für mich war das Fach »Englisch« immer mit Angst besetzt. Bei jeder Schularbeit habe ich gezittert, ob ich eine positive Note schaffe. Auch heute bin ich innerlich noch immer angespannt, wenn ich Englisch reden soll. Meinen Söhnen ist eine Bewertung ihrer Lernprozesse fremd, sodass sie keine Abneigungen zu gewissen Themengebieten entwickelt haben.
  • Lernen ist eine Grundeigenschaft alles Lebendigen: Bei einem kürzlich von Prof. Gerald Hüther gehaltenen Online-Vortrag (im Rahmen einer Masterclass des Online-Kurs-Anbieters younity im August 2022) machte er durch Beispiele deutlich, dass jedes System (sei es der Ameisenhaufen, die Nervenzellen im Gehirn oder die Familie) ständig lernt, wie es sich organisieren muss, damit es in die Welt passt. Aus seiner Sicht ist Bildung, sich all das anzueignen, was man braucht, damit man sich in dieser Welt, in die man hineinwächst, zurechtfindet. Wir können also nicht »nicht lernen«. Lernen geschieht definiti- onsgemäß immer – so selbstverständlich und aus sich heraus wie das Atmen!

Wieder kommen wir zurück zum Anfang: Eine neue Haltung ist unausweichlich.

Neue Bildungslandschaften

Erst dann, wenn wir eine gänzlich neue Haltung ein- nehmen, können die vom Philosophen Bertrand Stern in seinem Buch Schluss mit Schule! Das Menschenrecht, sich frei zu bilden beschriebenen »blühenden Bildungslandschaften« Wirklichkeit werden, erst dann die in Peter Grays (Wissenschaftler und Psychologe) Buch Befreit lernen. Wie lernen in Freiheit spielend gelingt angeführten, reichhaltigen Bildungsmöglichkeiten umgesetzt werden.

Bertrand Stern schreibt, dass es einerseits Orte der Bildung und andererseits Orte der Sozialisation geben soll. Der Mensch bildet sich zwar überall, das heißt aber nicht, dass es nicht spezifische Zentren dafür geben darf. Die einen Orte bieten optimale Bedingungen für die sozialen Bedürfnisse, die anderen für die verschiedensten Ar- ten von Fachthemen. Die Struktur, die es dazu braucht, beschreibt er mithilfe des Beispiels der Bücherei: Hier gibt es eine Vielfalt an angebotenen Büchern und Medien, Tische sowie Sitzgelegenheiten, die von allen Menschen, die das wollen, genutzt werden können. Das Personal ist in der dienenden Funktion. Ein neuer Lernort könnte demnach so ausschauen: Das Gebäude, die jeweiligen Werkstätten, Labore, Vortragsräume sowie das Personal werden vom Staat zur Verfügung gestellt. Wie und wann diese Räume genutzt werden, bestimmen die Menschen selbst. Peter Gray zählt ähnliche Ideen auf. Frei- willigkeit, das unkomplizierte und vor allem kostenfreie Zur-Verfügung-Stellen von Raum sowie die Vernetzung dieser Lernorte mit z.B. öffentlichen Büchereien sind einige davon. Er spinnt den Gedanken noch weiter: dass die Geschicke solcher Lernorte im Stile einer Gemeinschaftsversammlung von allen mitbestimmt werden. Für alle angeführten Vorschläge gilt: Die (jungen) Menschen übernehmen wieder die Verantwortung für ihr eigenes Lernen. Und die begleitenden Erwachsenen üben sich im »Einfach Dasein«.

Im Buch Die Sudbury Valley School. Eine neue Sicht auf das Lernen habe ich dazu folgende Zeilen von Hanna Greenberg gefunden: »An Sudbury Valley nichts zu tun, erfordert eine Menge Energie und Disziplin und außerdem langjährige Erfahrung. Im Nichtstun werde ich jedes Jahr besser, und es macht mir Spaß zu sehen, wie meine Kollegen und ich uns mit dem inneren Konflikt herumschlagen, der dabei unvermeidlich in jedem von uns erwächst. Der Konflikt besteht zwischen unserer Neigung, für andere da sein zu wollen, unser Wissen teilen zu wollen, hart erworbene Erkenntnisse vermitteln zu wollen, und dem Anspruch, dass die Kinder unter ihrer eigenen Regie und mit ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen können müssen. Sie nehmen uns in Anspruch, wenn sie es wollen – nicht, wenn wir es wollen. Wir müssen zur Stelle sein, wenn wir gefragt werden, nicht, wenn wir uns das nur einbilden.« Es wird ersichtlich, dass auch das Begleiten ein lebenslanges Lernen ist.

Ein gesellschaftlicher Wandel

Den großen (Bildungs-)Wandel läuten all jene ein, die sich bereits jetzt auf den Weg machen. Je mehr Menschen jemanden kennen, der frei und selbstbestimmt aufwachsen darf und durfte, umso mehr wird dieser Funke auf alle anderen Menschen überspringen. Dadurch wird dieses Recht auf ein »Frei-Sich-Bilden« für Kinder und letztendlich für jeden in absehbarer Zeit zur Selbstverständlichkeit werden. Das jeweilige System, die Struktur der neuen Lernorte passt sich an, je nachdem, aus welchen verschiedenen, einzigartigen Menschen es besteht. Daher wird sich auch das Regelwerk immer wieder ändern. Dieser Mechanismus wird sich aus den Bildungsorten automatisch in die Gesellschaft ausbreiten und auch hier für eine Veränderung im Umgang miteinander sorgen. Für zukünftige Lernorte gibt es daher nicht nur ein fixes Modell, sondern eine große Vielfalt. Alle aber haben eines gemeinsam: die Art, wie wir uns begegnen, ist auf Augenhöhe!

 

Literatur

Bertrand Stern: Schluß mit Schule! das Menschenrecht, sich frei zu bilden. tologo verlag, 2006.
Olivier Keller: Denn mein Leben ist Lernen. Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen. Arbor, 1999.
Totschnig, Terzic-Auer, Haubenberger-Lamprecht (Hrsg.): Lernen ist wie Atmen. Eigenverlag, 2017.
Peter Gray: Befreit lernen. Wie Lernen in Freiheit spielerisch gelingt. Drachenverlag, 2015.
Die Sudbury Valley School Press: Die Sudbury Valley School – Eine neue Sicht auf das Lernen. tologo verlag, 2005.
Daniel Greenberg: Ein klarer Blick – Neue Erkenntnisse aus 30 Jahren Sudbury Valley School. tologo verlag, 2006.