Zu spielen – das ist für junge Menschen die natürlichste Sache der Welt. Und auch die wichtigste – vor allem, was das Lernen betrifft. Das Spiel ist eine unschlagbare Ressource, um sich mit der Welt vertraut zu machen, Erfahrungen zu verarbeiten und sich zu erproben.
SUSANNE SOMMER
Die Bedeutung des Spielens in der menschlichen Entwicklung rückt glücklicherweise immer mehr ins Bewusstsein.
Der Autor und Bildungsreferent André Stern sagt: »Ein Kind macht keinen Unterschied zwischen Leben, Lernen und Spielen. Es ist für das Kind eine organische Einheit.« Dieser Satz beinhaltet zweierlei. Erstens, dass es keine Trennung zwischen Lernen und Spielen gibt, beides »einfach das Leben ist«. Und zweitens, dass wir Menschen es offensichtlich dennoch geschafft haben, diese natürliche Einheit in Frage zu stellen. Ja, noch dramatischer: die Synonyme Lernen und Spielen an den entgegensetzten Enden einer »Wichtigkeitsskala« zu platzieren. Immer wieder hört man Aussagen wie: »Ach, das Kind spielt ja nur. Es macht nichts Ernsthaftes. Nichts Sinnvolles. Es sollte sich vielmehr mit Lesen, Schreiben, Rechnen etc. beschäftigen.« Ja, das Spiel ist zur Unwichtigkeit verkommen. Sein Wert, seine Funktion wird in gewissen gesellschaftlichen Kontexten immer noch nicht verstanden.
Spielend Lernen
Glücklicherweise gibt es aber immer mehr Menschen, die sich dem Thema »Spielen und Lernen« professionell und auch wissenschaftlich widmen und all die Erkenntnisse und Beweise liefern, die uns allen ohnehin auf der Hand liegen sollten. Wenn wir auch nur ein einziges Mal einen jungen Menschen beim Spielen wirklich beobachtet, begriffen und wertgeschätzt hätten … bliebe kein Zweifel offen: Spielen ist Lernen. Und zwar wahres Lernen. Nachhaltiges Lernen. Tiefes Lernen. Mit jeder einzelnen Pore.
Junge Menschen, sofern man ihnen Zeit lässt und auch dafür sorgt, dass eben genügend Zeit da ist, saugen ihre Umgebung mit allen Sinnen auf. Sie beobachten. Messerscharf. Sehen kleinste Details. Hören jedes Geräusch. Legen ihre ungebrochene Aufmerksamkeit auf Abläufe, Vorgänge. Wenn ein junger Mensch zum Beispiel vollkommen und ungestört in die Beobachtung eines Müllautos eintauchen darf, wird er sich alle optischen und akustischen Merkmale zutiefst einprägen. Danach wird er alles, was er erlebt hat, nachspielen. Dafür braucht er kein Spielzeug-Müllauto. Es kann irgendetwas sein, das in ihm die passende Assoziation erweckt. Und er wird die Geräusche, das Auskippen der Tonnen, etc. präzise nachahmen. Meistens wird diese »spielende Beobachtung « dann auch noch wiederholt. Das kann für ein paar Stunden sein. Oder aber auch Wochen und Monate andauern. So lange, bis »ausgespielt« ist. Diesen Zeitpunkt kennt der junge Mensch selbst. Dann ist alles, was gelernt werden wollte, vollends verstanden und integriert. Und zwar nicht durch aufgedrängtes Auswendiglernen, sondern durch zutiefst eigenmotiviertes und organisches Erleben und Begreifen. So kann es ablaufen. Das sogenannte Lernen. Das Spielen. Wenn wir es ablaufen lassen.
Spiel ist Begeisterung ist Lernen. Warum?
Lässt man einen jungen Menschen spielen, so wird er lernen. Das steht außer Frage. Aber dieses »Spielen lernen « braucht Raum. Zeit. Individualität. Um diese Voraussetzungen zu schaffen, braucht es heutzutage Engagement der Bezugspersonen immer stärker. Denn in einer vom Kindergarten an leistungs- und konkurrenzgesteuerten und -ausgerichteten Gesellschaft gibt es diesen heiligen Raum nicht mehr automatisch. Warum aber nun lernen wir durch Spielen? Zunächst, weil er seinen eigenen Themen folgt. Er folgt seinen eigenen Impulsen, Interessen, Wichtigkeiten. Die Wissenschaft spricht von »intrinsischer Motivation«. Diese kommt also von innen und ist nicht von außen herangetragen oder ausgelöst. Gehört also dem jungen Menschen selbst. Und passt somit punktgenau und maßgeschneidert zu den aktuellen Lernprozessen, die in diesem jungen Menschen gerade anstehen. Daraus folgt, dass er mit Begeisterung bei der Sache ist, ja, emotional involviert ist. André Stern beschreibt es so:
Begeisterung löst Emotionen aus. Sie versetzt uns in einen Zustand, in dem die emotionalen Zentren aktiv sind. Und sind sie aktiv, so eignen wir uns die Informationen für immer an. Werden die emotionalen Zentren nicht aktiviert, hat die Information keine Chance, sich in unserem Gehirn zu verankern. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus, beinahe sofort. Dies ist die Erklärung dafür, weshalb wir in einer Welt leben, in der es als normal angesehen wird, achtzig Prozent des Gelernten wieder zu vergessen. […] Wenn wir aufhören würden, uns in die eigenen Rhythmen und Abläufe der Kinder einzumischen, könnten unsere Kinder von einer Emotion zur anderen, von einer Begeisterung zur nächsten gehen und so unendlich in dem Zustand bleiben, der uns erlaubt, alles dauerhaft zu lernen.
Es klingt so einfach, beinah paradiesisch einfach. Und das ist es tatsächlich auch. Beim Spiel, das selbst initiiert ist und ungestört vonstattengehen darf, hat immer die Begeisterung ihre Finger im Spiel. Ich durfte all diese Prozesse als Mutter eines mittlerweile neunjährigen Sohnes selbst erleben, erkennen, begreifen, begleiten. Das intrinsisch motivierte und von Lenkung und Erwartung freigehaltene Spiel führt immer zu einer verblüffenden und vor allem immer tieferen und somit dauerhaften Aneignung von Wissen. Einem erstaunlichen Wissen. Das sich organisch mit allem Wissen »davor und danach« verknüpft und weiterspinnt. Ein unendlich fein gewebtes Netz aus Details und Erkenntnissen. Ein tragendes Netz. Das keine achtzig Prozent durchrieseln lässt … Mein Sohn, der durch unendlich viel Zeit für unendliches Spiel ganz automatisch und ohne jegliches Zutun auch Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hat, ist natürlich kein Ausnahmefall. Das bestätigt mir mein umfassender Austausch mit Eltern, die die ihnen anvertrauten jungen Menschen mit derselben Haltung ins Leben begleiten: Vertrauen in die Perfektion oder besser: in die Genialität menschlicher Entwicklung. Respekt vor der Einzigartigkeit des Lebens. Und tiefe Freude, einem jungen Menschen bei seinen individuellen Wachstumsprozessen beizuwohnen.
Ist Spiel gleich Spiel?
Zum Thema »Spielen« ließe sich unendlich viel sagen. Aber vielleicht ist das Wichtigste zunächst zu verstehen, was denn mit Spielen genau gemeint ist. Die meisten Menschen denken dabei wahrscheinlich hauptsächlich an Brettspiele, Ballspiele, Kartenspiele, vielleicht Computerspiele. Ja, das ist auch Spiel. Sogenanntes »sekundäres Spiel«. Eine Art von Spiel, das gesellschaftlich bekannt und akkordiert ist. Ein Spiel nach bestimmten Regeln, nach Konventionen und Abmachungen. Daran ist nichts falsch. Aber es ist eben sekundär – also in »zweiter Reihe entstanden«. Am Anfang stand oder steht eine andere Art von Spiel. Tatsächlich ist in der Fachsprache vom »primären Spiel« die Rede. Auch finden sich die Begriffe »ursprüngliches Spiel« und »freies Spiel«. Hier gibt es kein Gewinnen; kein Ziel. Keine Vorschrift, wie es abzulaufen hat, wo und wie es zu enden hat. Es gibt keinen Wettstreit. Keine »äußere Intention«. Es ist das Spiel um des Spielens Willen. Und somit um des Lernens willen. Jeder junge Mensch macht das, wie gesagt, ganz von selbst. Warum? Weil er verstehen will. All das, womit er in dieser komplexen Welt konfrontiert ist. Weil er sich das wirkliche Verständnis erarbeiten will. Ernsthaft und wahrhaftig. Grundlegend und nachhaltig. Durch Spielen.
Sogenannte »Rollenspiele« zählen dazu. Aber es ist letztendlich vielschichtiger. Wenn ein Bleistift in der Hand eines Menschen zum Beispiel für Sekunden oder Stunden zu einem Flugzeug wird. Oder jedes Sandkörnchen mit allergrößter Aufmerksam in ein Becherchen umgefüllt wird. Oder jede einzelne Erbse mit Andacht und Ausdauer eingesammelt wird, wenn Bewegungen ausprobiert werden, wenn aus Steinen Bilder gelegt werden, wenn »die geheimen Zeichen« (Buchstaben und Zahlen) auf Autonummernschildern studiert und entschlüsselt werden, wenn man plötzlich Tiger, Schornsteinfeger oder allein auf einem Floß auf dem Meer ist; wenn innere mit äußeren Welten, Bildern verschmelzen – dann haben wir das »primäre Spiel« vor Augen. Doch egal ob primär oder sekundär – Spiel ist letztendlich jede von außen nicht gelenkte oder motivierte Tätigkeit, durch die sich der junge Mensch in die Welt »hineinlernt«. Deshalb ist Spielen auch stets eine ernsthafte Tätigkeit. Und keine in die sogenannte Freizeit verbannte Nichtigkeit.
Exkurs: sich gesund spielen
Dass Spielen nachhaltiges Lernen bewirkt, ist eine Tatsache. Mit großer Ernsthaftigkeit, Aufmerksamkeit und tiefer Begeisterung werden »Dinge aus der Realität« nachgeahmt, erprobt, wiederholt, erlernt. »Richtig frei spielen« zu können – also den inneren Impulsen bewertungsfrei folgen zu können – kann aber noch mehr bewirken. Nämlich Gesundwerden, Gesundsein. Das primäre Spiel ist ein Akt, in dem Alles aus dem Moment heraus entsteht. Dabei können sich auch Themen zeigen, die den jungen Menschen in seinem Leben aktuell emotional beschäftigen, belasten. In der magischen Sprache des Spiels sind diese Themen verschlüsselt. Wenn wir als Erwachsene diese Art des Spiels ernst nehmen, uns darauf einlassen, einsteigen und nicht als lästig oder als Zeitverschwendung abtun, sondern es ermöglichen und begleiten, können heilsame Prozesse angeregt und emotionale Anspannungen aufgelöst werden. Natürlich auch zu Hause, auf der Straße, in der Nachbarschaft. Aber manchmal sind diese Möglichkeiten gar nicht mehr recht vorhanden in den heutigen gesellschaftlichen Strukturen. Dann ist es gut, wenn es Menschen gibt, die bewusste Räume dafür schaffen, wie Gerda Salis Gross, eine Schweizer Autorin und Spielbegleiterin, die jungen Menschen den Raum, die Zeit und den Rahmen gibt, frei zu spielen. Sich freizuspielen. Viele einprägsame Beispiele dafür liefert sie in ihrem Buch »Im Spiel dem Leben Freiheit schenken«. Wenn die Bezugspersonen die Impulse des jungen Menschen aufnehmen, ohne zu beurteilen, ohne zu lenken, dann kann aus der fühlbaren Verbindung nicht nur tiefe Freude entstehen, sondern auch verlorenes Vertrauen nachgenährt werden und Heilung passieren – zumindest eine wunderbare Unterstützung dorthin sein. Gesundwerden kann man »lernen«. Durch Spielen.
Das Leben lernen … durch Spiel
Und so viel mehr wird durch Spielen gelernt. André Stern benennt als die drei Haupttätigkeiten eines jungen Menschen das Nachahmen, das Nachspielen und das Wiederholen. Also kurz: Die Haupttätigkeit ist das Spielen. Es ist niemals eine banale oder unstrukturierte Tätigkeit. Es folgt inneren und äußeren Rhythmen und Ritualen. Es sind die vielen Wiederholungen im Sein und Tun eines jungen Menschen. Bis wieder ein Teil der Welt »tief im Inneren« integriert wurde, verstanden wurde, verinnerlicht wurde. Wenn wir den Jüngsten diese Möglichkeiten zugestehen, wenn wir sie mitten im Leben sein lassen, ihnen die Chance geben, die Vielfalt des Lebens zu sehen und aus sich selbst heraus zu begreifen, wenn wir uns zurücknehmen mit eigenen Ideen und Eingriffen, wenn wir uns anstecken lassen von ihrer Begeisterung für ein bestimmtes Thema mitschwingen, ohne zu bewerten und ohne in unsere eigenen Ängste zu versinken, unsere Töchter und Söhne könnten irgendetwas nicht lernen – dann, ja dann haben wir die idealen Lernbedingungen erschaffen. Und können sicher sein: Direkt im Leben das Leben nachzuspielen, ist die perfekte Lernumgebung.
Damit all das stattfinden kann, braucht es eine Bewusstheit dafür. Eine Bewusstheit, dass das Spiel Raum braucht und nicht im hintersten Winkel zwischen Schulbesuch und Sportverein landen darf. Die Autorin Maria Luisa Nüesch schreibt dazu:
Spiele, echte Spiele, [wo Kinder langsam eintauchen in ihre kindliche Eigenwelt], wo sie etwas entstehen lassen mit und aus dem, was gerade ist oder sein könnte, die braubrauchen Zeit. Die fadenscheinigen und so krämerhaft bemessenen Zeithäppchen, die wir den Kindern zwischen zwei Terminen, zwischen Tischabräumen und Schulaufgaben zugestehen, reichen dazu nicht aus. Damit ersticken wir ihre schöpferischen Gedanken im Keim, verwehren ihnen den Zugang ins Reich der Träume und der Fantasie, das nahtlos in ihre reale Erlebniswelt übergeht und wo sie doch eigentlich zu Hause wären.
Lebensrettungsspiel
Lernprozesse brauchen Zeit. Das ist wohl die tiefste Wahrheit. Sie können nicht beschleunigt werden und sie können nicht von außen vorgegeben werden. Sie passieren. Wenn wir sie passieren lassen. In einer Gesellschaft allerdings, in der schon die Kleinsten zu funktionieren haben und in der alle das Gleiche zur selben Zeit erlernen sollen – völlig unabhängig von ihren Interessen, Begabungen und aktuell menschlichen Bedürfnissen (wie Ruhe, Pause, Bewegung, Essen etc.) – gibt es diese »unendliche Zeit für einen Prozess« nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt. Vielen Eltern und Bezugspersonen freilernender Kinder ist das mehr als bewusst. Und sie tragen den tiefen Wunsch und auch das Verantwortungsgefühl in sich, die ihnen anvertrauten Menschen »in Ruhe zu lassen«. Was bedeutet: mit ihnen zu sein, mit ihren Begeisterungen und wundersam faszinierenden Schritten ins Leben zu sein, sie gleichzeitig nicht zu stören in ihren Prozessen, zu vertrauen, zu staunen. Und ihnen Zeit zu geben. Für ihre individuellen Lernund Entwicklungsprozesse.
Wie kann unseren Söhnen und Töchtern also geholfen werden? Indem die Erwachsenen diese Räume wieder ermöglichen. Und anstatt die Jüngsten zu fördern, sich »einfach« selbst fördern. Also neue Eigenschaften in sich selbst kultivieren, wie zum Beispiel Spiel nicht zu unterbrechen, nicht zu bewerten, nicht eine Tätigkeit über eine andere zu stellen, nicht zu drängen, nicht ständig etwas Neues vorzuschlagen, da zu sein, dabei zu sein, ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, Vertrauen zu entwickeln, selbst tiefe Begeisterungen zu (er) leben uvm. Es geht um die Entwicklung einer zutiefst menschlichen Haltung des Einfühlens, Respektierens, Vertrauens, Liebens; einer Haltung, die uns Menschen so ureigen wäre, uns aber so sehr abhandengekommen zu sein scheint, dass wir sie erst wieder entwickeln müssen. Dass wir sie uns erst wieder »erspielen« müssen. Ja, auch ältere Menschen brauchen das Spiel in ihrem Leben. Diese unschlagbaren Begeisterungsstürme, die in unseren Gehirnen ausgelöst werden, wenn wir vollkommen von etwas eingenommen sind. Dann bleiben die Gehirne auch lernfähig und jung. Und die Herzen sowieso. Das Spiel muss gerettet werden, damit es uns Menschen das Leben retten kann …
Susanne Sommer
lebt in Österreich, ist engagierte Mama eines neunjährigen, freilernenden Sohnes, Autorin und Gestalterin. Sie setzt sich in Sachartikeln und Interviews u. a. mit den Themen »Selbstbestimmtes Lernen und Leben«, »Geburt«, »Trauma« und »Muttersein« auseinander. Schreibt außerdem Lyrik und Kinderbücher: Willi Wunder, See-le-ben, Vom Wolkenschauen und Träumegießen, Seiten einer Jungseefrau. Mehr unter www.textbewegungen.at.
Literatur
O. Fred Donaldson: Von Herzen spielen – Die Grundlagen des ursprünglichen Spiels. Arbor, 1993.
Gerda Salis Gross: Im Spiel dem Leben Freiheit schenken. Futurum Verlag, 2021.
Maria Luisa Nüesch: Spiel aus der Tiefe – Von der Fähigkeit der Kinder, sich gesund zu spielen. K2-Verlag, 2004.
André Stern: Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben. Elisabeth Sandmann Verlag, 2016.
André Stern: Begeisterung – Die Energie der Kindheit wiederentdecken. Elisabeth Sandmann Verlag, 2019.
André Stern: Die Rhythmen und Rituale unserer Kindheit – Vom Reichtum, der von innen kommt. Beltz, 2021.
Alan Thomas & Harriet Pattison: Informelles Lernen – Wie Kinder zu Hause lernen. tologo verlag, 2016.
Gudrun Totschnig, Sigrid Haubenberger-Lamprecht & Alexandra Terzic-Auer (Hrsg.): Lernen ist wie Atmen. Eigenverlag, 2017.