Freilernen – ein Begriff, der häufig viele Fragen offenlässt. Das ABC des natürlichen Lernens sammelt und erklärt die wesentlichen Begriffe des Freilernens.
HEIDRUN KRISA & SUSANNE SOMMER
C wie Chaos
Das Wort »Chaos« bezeichnet alltagssprachlich einen Zustand völliger Unordnung oder Verwirrung. Unübersichtlichkeit. Strukturlosigkeit. Diese Etiketten werden gerne auch dem »Freilernen« umgehängt. Da heißt es schnell: Wenn die jungen Menschen nicht eine vorgegebene Struktur haben, dann sind sie orientierungslos. Dann verwildern sie. Dann gibt es Chaos. Wie so oft werden auch hier Hopfen und Malz miteinander vermischt. Denn um Laissez-faire geht es beim Freilernen keineswegs. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen aufgezwungener und mitgestalteter bzw. selbst gewählter Struktur. Die meisten Menschen, die sich für die Haltung des Freilernens entscheiden, entscheiden sich für Vertrauen. Sie vertrauen ihren jungen Menschen nicht nur, dass sie ihre eigenen Interessen und Talente entdecken und ausformen, sondern auch, dass sie sich selbst am besten spüren und wahrnehmen können.
Deshalb ist es selbstverständlich, dass diese auch die Rituale und Strukturen, die sie betreffen (das Zubettgehen, die Körperpflege etc.), mitgestalten. Strukturen sind wichtig in der menschlichen Entwicklung und Gemeinschaft, ja sie werden von den Menschen selbst gesucht. Aber sie wollen und müssen sie nach ihrem eigenen Empfinden ausformen können und dürfen, anstatt äußeren Vorgaben unterworfen zu werden. So ist es ein Unterschied, ob Kinder um sieben Uhr abends im Bett sein müssen, weil es für die Erwachsenen der einfachste Weg ist oder ob der junge Mensch selbst seinen Rhythmus finden und aus sich selbst heraus erkennen darf, warum Schlaf wichtig ist und wie er diesem Grundbedürfnis am besten nachkommen kann. Beim Freilernen ist diese natürliche Entwicklung und Erhaltung des Wahrnehmens des eigenen Körpers und der eigenen Bedürfnisse möglich, weil keine starren Regeln von außen (wie zum Beispiel ein festgelegter Schulbeginn) einschränken und eingreifen. Sich nicht von in die eigene Erlebenswelt eingreifenden, gesellschaftlich akkordierten Strukturen einengen zu lassen, heißt nicht, keine Strukturen zu haben. Von Chaos kann hier keine Rede sein.
C wie Challenge
Challenges sind gerade sehr angesagt. In den Social-Media- Kanälen findet man sie zu beinah jedem Thema: Da gibt es 7-Tage-Achtsamkeitschallenges, 28-Tage-Abnehmchallenges, 48-Stunden-Dauercomputerspielenchallenges etc. Aber die eigentliche Challenge ist und bleibt wohl das Leben. Das bietet genug Herausforderungen. Und deshalb ist es so sinnvoll, auch im Leben zu lernen. Und nicht in künstlich erschaffenen Parallelwelten (wie Schulen), die so tun, als könne Lernen ausschließlich dort vonstattengehen. Dass aber Lernen immer und überall und am besten im »ganz gewöhnlichen Alltagsleben« stattfindet, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, sondern ein wissenschaftlich bewiesenes Faktum. Das Leben ist das beste Anschauungsmaterial. Wenn wir noch Zeit, Aufmerksamkeit und eine bewertungsfreie Haltung dazunehmen, muss sich niemand Sorgen darüber machen, ob junge Menschen »auch ja genug lernen«.
Das Freilernen basiert auf der Überzeugung und Beobachtung, dass das Leben den perfekten Nährboden zum Lernen bietet. Der individuellen Entwicklung und auch den einzigartigen Begabungen eines jeden jungen Menschen kommt dieser Rahmen positiv entgegen. Spannenderweise befürchten viele Eltern, die noch keine Erfahrung im freien Lernen gesammelt haben, dass sie »das nicht schaffen werden«. Dass es eine zu große Herausforderung sein könnte. Letztendlich steckt dahinter die Angst, das »bekannte« Leben zu sehr umgestalten zu müssen. Denn ja, eine Adaption des Lebensstils braucht es, um individuell auf die verschiedenen Entwicklungsbedürfnisse junger Menschen eingehen zu können. Letztendlich aber wartet hinter diesem für viele verunsichernden Schritt eine große Erleichterung auf verschiedenen Ebenen., denn wer jungen Menschen die Freiheit ihres Seins und Tuns in liebevollem Beisein gewährt, wird eine wunderbar leichte Beziehungsqualität erleben – eine Qualität, die sich aus Vertrauen, Aufmerksamkeit, Zeit und Geduld ganz automatisch ergibt. Herausforderungen wird es auch in dieser gelebten Haltung geben, weil das Leben immer wieder Aufgaben aller Art stellt. Diese Challenges haben aber nichts mit dem Freilernen zu tun, sondern mit der Natur des Lebens.
Allerdings – das soll hier natürlich auch Erwähnung finden – bedeutet das mutige Eintreten von Eltern für den freien und selbstbestimmten Bildungsweg ihrer Söhne und Töchter beinah immer eine Herausforderung im Umgang mit Behörden. Aber auch diese lässt sich bewältigen, wenn wir uns zutrauen, zu wachsen und für uns und unsere Lieben einzutreten.