Immer wieder beziehen sich Behörden (Bildungsdirektionen, Ämter der Kinder- und Jugendwohlfahrt) in Fällen von Nichtschulbesuch bzw. Nichtablegen der Externistenprüfung auf das OGH Urteil vom 25.09.2018 als Begründung für die Androhung eines Obsorgeverfahrens.
Bei dieser OGH-Entscheidung wurde der betroffenen Familie zunächst die Obsorge in schulischen Belangen entzogen. Beim darauffolgenden Rekurs im Jahr 2019 entschied dann das Landesgericht Wien, die gesamte Obsorge auf die Kinder- und Jugendwohlfahrt zu übertragen.
Wir, die Familie, der dieses Urteil gegolten hat, wollen hier 5 Jahre später einen kurzen Überblick über den an- schließenden Werdegang unseres Sohnes und die momentane Situation geben. Damit zeigen wir auf, dass sich die Argumente, die der Oberste Gerichtshof in seiner damaligen Entscheidung angeführt hat, als falsch erwiesen haben.
Gleich vorweg: Auch nach dem Entzug der Obsorge wohnten unsere Söhne weiterhin bei uns.
Wie ging es also nach dem Entzug der gesamten Obsorge weiter?
Die Kinder- und Jugendwohlfahrt stellte unseren Sohn vor die Wahl: entweder Lehre oder Schule. Er entschied sich für die Schule und wählte dafür eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht und eigenem Lehrplan. Dort bilden sich die jungen Menschen ohne Klassenstruktur und fixe Stundenpläne, d. h. er konnte weiterhin uneingeschränkt seinen Interessen folgen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste unser damals 15-jähriger Sohn bereits, dass er eine Lehre im elektronischen Bereich absolvieren möchte. In jungen Jahren entdeckte er seine Liebe zur Technik, ab dem 12. Lebensjahr widmete er sich v. a. dem Bereich Elektronik. All sein Wissen diesbzgl. hat er sich eigenständig mit Hilfe von Büchern, Youtube-Videos und im Austausch mit einem Freund erworben.
Im OGH Urteil (S.15) wurde dagegen behauptet:
„Die erforderliche, aktive Wissensvermittlung zur Behebung der bestehenden Wissenslücken setze eine wirksame Vertretungsmacht des oder der Dritten voraus“
Das eine Jahr in der freien Privatschule hat unser Sohn auch dazu genutzt, um sich weiteres Wissen v. a. in den schulischen Fächern Mathematik und Deutsch anzueignen. Sein Ziel war es, sich dadurch bestmöglich auf die im Rahmen einer Lehrstellenbewerbung üblichen Aufnahmetests vorzubereiten.
Im OGH Urteil (S. 9/10) wurde dagegen behauptet:
„Bei einer derzeit bestehenden Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr müsste xxx den Lernstoff von vielen Schuljahren komprimiert nachholen. Wenn sich ein Kind – außer es ist hochbegabt – Wissen selbstbestimmt aneignen soll, würde es länger als die in der in der Schule dafür vorgesehenen Zeit benötigen“
Bei dem Auswahlverfahren im Jahr darauf (Fragen u. a. in den Bereichen fachliches Verständnis, Grundlagen- wissen, Mathematik und Deutsch) wurde unser Sohn aus einer großen Anzahl von Bewerbern und Bewerberinnen ausgewählt.
Im OGH Urteil (S. 20/21) wurde dagegen behauptet:
„Es ist zwar nach den Feststellungen nicht ausgeschlossen, einen Beruf erlernen kann, der exakt den Fähig- keiten und Fertigkeiten von xxx entspricht. Jedoch gilt dies nur, wenn er kein Wissen nachweisen muss, …“
Mittlerweile befindet sich unser Sohn im zweiten Lehrjahr. Seine belegten Leistungen in der Firma und in der Berufsschule sind ausgezeichnet, er ist einer der Besten! Seit letztem Herbst belegt er außerdem den in der Firma angebotenen berufsbegleitenden Maturakurs und kann dem Unterricht ohne Schwierigkeiten folgen.
Mit diesem Bericht möchten wir Familien, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, Argumente gegen unser von den Behörden immer wieder zitiertes OGH-Urteil liefern. Gleichzeitig möchten wir mit unserem Beispiel das Vertrauen in die vorhandenen Fähigkeiten unserer Kinder und den vielfach bewährten Bildungsweg des „Frei-sich-Bildens“ stärken. Am Beispiel unseres Sohnes hat sich wieder einmal gezeigt, dass dieser Weg auch in beruflicher Hinsicht gelingt und keinesfalls eine Gefährdung des Kindeswohls darstellt!
PS: Der vorliegende Artikel spiegelt unsere gelebte persönliche Erfahrung wider. Um dem besagten Urteil auch allgemein und wissenschaft- lich untermauert zu begegnen, empfehlen wir den Beitrag „Benachteiligt Ohne Pflichtschulabschluss Und Matura? OGH Urteil Kritisch Betrachtet“.
Hier gibts den Text auch zum Download: OGH Urteil Nichtschulbesuch Bestandsaufnahme 2023_02.pdf