Treue im Umgang mit unseren Kindern bedeutet, den Mut zu haben, sich für ihre Rechte und Bedürfnisse einzusetzen und im Umgang mit Autoritäten, Institutionen und den eigenen Eltern selbstbewusst für sie einzustehen. Vom selbstbewussten Einstehen für unsere Kinder und der Heilung unseres Inneren Kindes.
MARIE-SOPHIE FREI
Der Treuebegriff ist in unserer heutigen Gesellschaft eng mit der romantischen Paarbeziehung verbunden. Für die meisten Menschen bedeutet Treue insbesondere sexuelle Monogamie und romantische Ausschließlichkeit im wörtlichen Sinne, nämlich dass weitere mögliche Liebespartner:innen aus dem Leben eines in einer Liebesbeziehung lebenden Menschen ausgeschlossen sein sollen. Inhaltlich ist die Treue nicht allein die tugendvolle, freiwillige Selbstverpflichtung unter Liebenden, sondern auch eine von der Kirche und dem Staat vorgeschriebene, sogar erzwungene Verhaltensweise von ihren Mitgliedern bzw. Staatsbürger:innen. Treue spielt deshalb nicht nur in der Paarbeziehung eine Rolle, sondern sie wird auch von Soldat:innen und Bürger:innen gegenüber dem Staat, von Geschäftspartner:innen, von Gläubigen und überhaupt von jedermann, der sich »nach Treu und Glauben« im Rechtssystem bewegt, erwartet.
Wie problematisch es selbst in der Liebe ist, den Treuebegriff allein an der sexuellen Monogamie festzumachen, zeigen folgende Sachverhalte. Sind Ehepartner:innen, die sich weigern, mit dem jeweils andere:n Ehepartner:in zusammenzuziehen, mit ihm:ihr den Alltag zu gestalten, sich ihm:ihr zärtlich zuzuwenden, geschweige denn mit ihm:ihr geschlechtlich zu verkehren, dem:der anderen treu, nur weil sie aus religiösen Motiven oder psychologischen Gründen keine:n andere:n Partner:in haben? Wie ist es um die Treue des Ehemannes bestellt, der seine kranke Frau zu Hause lässt und mit seinen männlichen Kumpeln einen Mallorca-Urlaub unternimmt? Beide Fälle zeigen Beispiele auf, die nicht mit sexueller Untreue einhergehen, deren Beteiligten man aber dennoch eklatante Untreue unterstellen möchte, weil die zugewandte, liebevolle innere Haltung gegenüber dem:der Partner:in fehlt.
Treue beinhaltet eine bejahende innere Haltung
Treue ist demnach ein viel weitgehender Begriff als sexuelle Monogamie. Treue beinhaltet eine grundsätzlich bejahende innere Haltung der Beteiligten zueinander. Zwischenmenschliche Solidarität, Loyalität, Beistand und gegenseitiges Vertrauen sind ebenso grundsätzliche Aspekte von Treue wie die Bereitschaft, der Integrität der Beziehung zu ver-trauen, ihre Kontinuität zu geben sowie die Bedürfnisse des jeweils anderen zu erkennen und für diese einzustehen. Treu sein kann man demzufolge auch einem Kind, wenn man seine Individualität bejaht, bedingungslos zu ihm steht, es mit seinen höchstpersönlichen, zu ihm gehörenden Bedürfnissen wahrnimmt und loyal für diese einsteht, selbst wenn sie den Vorgaben und Erwartungen medizinischer, pädagogischer, gesellschaftlicher oder gesetzlicher Institutionen entgegenstehen.
Treue hat auch in Zusammenhang mit Kindern mit Vertrauen zu tun. Es beinhaltet konkret das Vertrauen darauf, dass der junge Mensch »richtig« ist, so wie er ist, dass in ihm bereits alles angelegt ist, was er braucht, um sich in dieser Welt zu bewegen und dass sich seine Entwicklung gemäß seines inneren Entfaltungsplans zur für ihn richtigen Zeit vollziehen wird. Ihm in diesem höchstpersönlichen und kreativen Entwicklungsprozess liebevoll zur Seite zu stehen, es gemäß seinen individuellen Bedürfnissen achtsam zu begleiten, es vor adultistischen Übergriffen zu schützen und notfalls aufrecht für es einzustehen, sind Akte der Treue. Wer das einzigartige Wesen eines Kindes erkannt hat, schließt die Vorstellung aus, dass es eine tabula rasa ist, also eine weiße Tafel, die erst beschrieben werden muss und die erst durch äußere Manipulation, Förderung, Therapie, Erziehung, Beschulung oder anderem externen Einfluss und Reizen zu ihrem Potential kommt. Stattdessen wird vertrauensvoll angenommen, dass das Kind gemäß seinen genetischen und geistigen Anlagen bereits ist, nicht werden muss. So wie die tiefe, bedingungslose romantische Liebe für einen Partner nicht danach trachtet, dass der jeweils andere sich erst noch ändert, er sich verbiegt und zu einem wünschenswerteren Sein gelangt, zeigt sich die Treue zum Kind in dem Vertrauen und der Überzeugung, dass sein Wert nicht davon abhängig ist, wie gut oder wie schlecht es externen Vorgaben und Normen entspricht, die seiner Einzigartigkeit unter Umständen nicht gerecht werden.
Elternschaft und Rückgewinnung von Autorität
Die Treue zu unseren Kindern setzt in nicht geringem Maße voraus, dass wir Erwachsene uns selbst treu werden oder bleiben, indem wir uns und unsere Wahrnehmung als Eltern ernst nehmen und die Verantwortung für unser Tun nicht an Autoritäten und Institutionen abtreten, sondern ganz konkret für uns selbst und auch für unsere Kinder einstehen. Der Prozess der Rückgewinnung der Autorität über Entscheidungen, die uns und unsere Kinder ganz persönlich betreffen und mit deren Konsequenzen wir leben müssen, erfordert indes viel Mut und Kraft. Gar zu bereitwillig und übergriffig sind die Bemühungen sogenannter Experten, uns unsere Entscheidungen abzunehmen. Es war Teil unseres kindlichen Sozialisierungsprozesses, dass uns stets Gehorsam und Treue gegenüber Erwachsenen und Institutionen abverlangt wurden, während wir uns selbst untreu werden mussten, weil wir jung und machtlos waren und niemand uns gehört hat. Die Machtlosigkeit bestand darin, dass wir altersbedingt akzeptieren mussten, dass andere über uns entscheiden konnten, was wir wann und wo zu tun oder zu lernen hatten, dass wir auch gegen unseren Willen an Orten und mit Menschen verbleiben mussten, die uns nicht guttaten und dass dies angeblich zu unserem Besten geschah.
Adultismus als Ursache von Machtlosigkeit
Der Begriff des Adultismus (engl. adultism) leitet sich aus dem englischen Wort »adult« für Erwachsene sowie der Nachsilbe –ism bzw. –ismus als Kennzeichen eines gesellschaftlich verankerten Machtsystems her (vgl. Ritz 2008a). Dieses Machtungleichgewicht und die Diskriminierung junger Menschen basieren allein auf dem Altersunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern, es kann unter Umständen jedoch auch unter älteren und jüngeren Kindern herrschen. Diese Form der Ungleichbehandlung ist auf dem Axiom gegründet, dass Erwachsene oder Ältere intelligenter, reifer und kompetenter sind als Kinder und dass sie deshalb besser beurteilen können, ob sich ein Kind in einer es selbst höchstpersönlich betreffenden Situation wohl oder unwohl fühlt.
Sazama definierte Adultismus im Jahre 1996 als systematische Misshandlung und Missachtung von Kindern und Jugendliche durch die Gesellschaft, wobei die Respektlosigkeit Erwachsener gegenüber Kindern die Wurzel der Unterdrückung sind. »Junge Menschen werden von der Gesellschaft systematisch misshandelt und respektlos behandelt, wobei Erwachsene die Urheber der Unterdrückung sind. Die Grundlage der Unterdrückung ist Respektlosigkeit. Die Erscheinungsformen der Unterdrückung umfassen die systembedingte Abwertung von Kindern, dem Versagen, gehört zu werden oder respektvolle Aufmerksamkeit zu erhalten, körperlichem Missbrauch, Mangel an Information, der Aberkennung von jeglicher Macht, wirtschaftliche Abhängigkeit, dem Mangel an Rechten und jegliche Kombination des hier Erwähnten. « (Sazama 1996 zit. nach www.youthrights.net).
Die erwähnte Ungleichbehandlung junger Menschen wird durch soziale Institutionen, Gesetze und Traditionen unterstützt, wobei die Mehrheit der Menschen, selbst Ärzte, Psychologen und Pädagogen, den Adultismus für gegeben erachten und ihn nicht mehr hinterfragen. Der Grund für die weite Verbreitung und die Akzeptanz von Adultismus ist, dass im Gegensatz zu anderen Ausgrenzungserfahrungen nahezu jeder Erwachsene als Kind Adultismus an der eigenen Haut erfahren hat: in Wer das einzigartige Wesen eines Kindes erkannt hat, weiß, dass es bereits ist, nicht werden muss. 2/2022 – 39 der Familie, im Kindergarten, in der Schule, im Verein, in öffentlichen Verkehrsmitteln, von Mitmenschen, Richter: innen, Lehrer:innen, Pfarrer:innen. Nahezu jeder Erwachsene wurde als Kind zum Objekt von Machtinteressen anderer, die alle nur sein Bestes wollten, während es selbst weder die Macht noch die Autorität hatte, überhaupt nur darüber nachzudenken, was denn sein Bestes sein könnte.
Kinder lernen in der Schule vor allem, dass sie klein und bedürftig sind, dass sie ihre Lehrer folglich als Expert: innen und Entscheidungsrichter:innen anerkennen müssen, da letztere altersbedingt alles besser wissen und können. Kinder sollen ebenfalls akzeptieren, dass sie Erwachsenen aufgrund ihrer alters- und erfahrungsmäßigen Unterlegenheit das Recht einräumen müssen, sie zu erziehen und zu beschulen. Junge Menschen müssen sich anpassen, damit sie im Schulsystem überleben können und den Anweisungen der Lehrer:innen folgen, während ihnen keinerlei Entscheidungsrecht in grundlegenden und höchstpersönlichen Angelegenheiten zugestanden wird. Allein die deutsche Schulanwesenheitspflicht erlaubt es Kindern nicht, sich gegen ganz grundsätzliche und höchstpersönliche Maßnahmen zu wehren, die andere ihnen auferlegen und die sie nicht im geringsten beeinflussen können: Sie müssen sich jeden Tag an einen staatlich vorgeschriebenen Ort begeben, ihre Zeit mit Menschen verbringen, die sie sich ebenfalls nicht selbst aussuchen können und sich körperlichen und geistigen Beschäftigungen widmen, die unter Umständen (noch) ganz und gar nicht in den individuellen Entwicklungsplan passen und diesem unter Umständen sogar völlig zuwider laufen und somit schädlich sind. Die Schulpflicht zeigt, wie übergriffig und gewalttätig die staatliche Haltung gegenüber jungen Menschen ist. Ohne die Aussicht, sich gegen die gesetzlich verordnete Beschulung wehren zu können, machen sie zudem die Erfahrung, sich immer und immer wieder von Fremden objektivieren, prüfen und bewerten lassen zu müssen, ohne dass sie in ihrer individuellen Entwicklung und Einzigartigkeit gesehen werden. Kindern wird per Zwang Treue zum System abverlangt, während sie sich selbst untreu werden müssen und ihr Selbstvertrauen schwindet.
Elternschaft als Reflexion von Adultismus und der Verletzungen des Inneren Kindes
Wenn Erwachsene, die unter der Repression des Adultismus aufgewachsen sind, selbst Kinder bekommen, ergibt sich ihnen die Chance zur ganz grundlegenden Reflexion von adultistischen Verhaltensweisen. Die grundlegende Auseinandersetzung mit dieser Form der Diskriminierung betrifft schließlich nicht nur die Haltung gegenüber den eigenen Kindern, sondern auch das Innere Kind, das unter adultistischer Behandlungen gelitten hat. Das Anerkennen und Einstehen für die Rechte und Bedürfnisse des eigenen Kindes birgt deshalb nicht nur die Chance, dass Verwundungen an der neuen Generation konkret vermieden werden, sondern dass durch den respektvollen Umgang mit den Kindern auch die Verwundungen des eigenen Inneren Kindes geheilt werden. Schließlich ist die Heilung des Inneren, verwundeten Kindes die Voraussetzung für das Ablegen von Angst gegenüber Autoritäten und Institutionen, was die Voraussetzung für autonomes Handeln für sich selbst und für unsere Kinder darstellt. Solange wir uns nicht von der Angst gegenüber Autoritäten und Institutionen und somit von den systematisch zugefügten Traumata unserer Kindheit befreien, können wir nicht gut für unsere Kinder einstehen und ihnen somit im Umgang gegenüber Autoritäten und Institutionen nicht treu sein. Stattdessen rutschen wir bei Konfrontationen mit Institutionen und ihren Mitarbeitern selbst immer wieder in die Angststarre, die wir als Kind schon erlebt hatten, und dulden gegenüber unseren Kindern die Weitergabe derselben systemischen Gewalt. Die achtsame Auseinandersetzung mit dem systematischen Adultismus birgt somit die Möglichkeit, die systematische und generationenübergreifende Gewaltspirale gegenüber jungen Menschen grundsätzlich zu unterbrechen und somit die Gesellschaft als Ganzes zu heilen. Dazu müssen wir uns selbst und unseren Kindern gegenüber treu sein und bleiben.
Der Umgang mit unseren Kindern, in den heutzutage so viele gesellschaftliche, gesundheits-, und familienpolitische Kräfte hineinregieren wollen, fordert uns bereits vor der Geburt zur Auseinandersetzung mit dem Treuebegriff auf. Treue bedeutet im weitesten Sinne schließlich auch, die Existenz und die Kontinuität einer gelebten Beziehung nicht mehr in Frage zu stellen. Diese innere Haltung ist eine Haltung der Hingabe, des Bejahens, der aktiven Anteilnahme am Leben und den Bedürfnissen des anderen Menschen. Er hat nicht zuletzt mit der Akzeptanz der Würde dieses »Du« zu tun.
Treue in der vorgeburtlichen Beziehung zum Kind
Wenn eine Frau in unserer Zeit schwanger wird, wird sie im Zusammenhang mit den medizinisch verfügbaren, mittlerweile von den Krankenkassen finanziell getragenen Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik wiederholt dazu gebracht darüber nachzudenken, wie sie denn entschiede, wenn ein Untersuchungsergebnis darauf hinwiese, dass das in ihrem Körper heranwachsende Kind nicht die von der Medizin und der Gesellschaft erwarteten körperlichen Eigenschaften aufzeigen würde. In regelmäßigen Abständen wird der Schwangeren nicht nur angeboten, sondern sie wird aus Haftungsgründen von den begleitenden Ärzt:innen oftmals dazu gedrängt, die Leibesfrucht einem Check-up zu unterziehen, dessen Unter2/ 2022 – 40 suchungsergebnis die Fortsetzung der Schwangerschaft konkret in Frage stellt. Oftmals beklagen sich schwangere Frauen, dass sie sich nur abschnittsweise schwanger fühlen, weil sie, statt guter Hoffnung zu sein, stetig ängstlich sind und ein Damoklesschwert über der Schwangerschaft fühlen. Oftmals geben sie dem Drängen der Mediziner: innen auf medizinische Frühuntersuchungen entgegen ihrer inneren Überzeugung nach, um Konfrontationen aus dem Wege zu gehen oder weil sie meinen, sie müssten den Wünschen der Ärzt:innen Folge leisten. Dadurch werden sie sich selbst und ihren ungeborenen Kindern untreu. Sie fühlen sich im Entscheidungsprozess über den Umgang mit ihrem Körper und ihrem Kind nicht als autonome Gegenüber, denen man auf Augenhöhe begegnet, sondern als unmündige Kinder, über die bestimmt wird und deren Wünsche und Bedürfnisse nicht gehört werden. Frauen, die sich gewahr werden, dass ihr Unbehagen, nein zu sagen, auf der Ohnmacht bei adultistischen Übergriffen in der Kindheit gegründet ist, können sich aktiv dazu entscheiden, sich selbst treu zu werden, für sich selbst und für ihr Ungeborenes einzustehen und die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik entgegen dem Rat der Ärzteschaft abzulehnen. Diese Entscheidung, sich statt der Angst der guten Hoffnung hinzugeben, erfordert oftmals viel Mut und Hartnäckigkeit, denn Ärzt:innen sind in eigenen Machtstrukturen eingebettet und ihre Interessen können oft nur durch entsprechenden Druck auf die Schwangeren gewahrt werden. Gegen die Erwartungen der behandelnden Mediziner:innen »nein« zu sagen, weil sie sich bedingungslos für das Kind unter ihrem Herzen entschieden haben und sie diese Beziehung nicht wiederholt in Frage stellen wollen, ist befreiend für viele werdende Mütter. Sie empfinden alles andere als Untreue gegenüber dem sich entwickelnden Baby und stehen für ihr Recht ein, das Kind so anzunehmen wie es ist. Oftmals können festgestellten Diagnosen ohnehin keine oder noch keine therapeutischen Schritte folgen, solange das Kind noch im Mutterleib ist, sondern sie setzen die Eltern, vor allem die Mutter, massiv unter Druck, über das heranwachsende Leben zu entscheiden. Selbstverständlich kann gerade auch die Treue zum Kind einer werdenden Mutter gebieten, vorgeburtlichen Untersuchungen zuzustimmen beziehungsweise sie aktiv einzufordern. Wichtig ist, dass werdende Mütter darauf bestehen, dass ihnen auf Augenhöhe begegnet wird und sie aktiv an der Entscheidung beteiligt sind, welche Tests sinnvoll erscheinen und welche nicht.
Einstehen für das Recht auf individuelle Entwicklung
Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes besagt, dass es das natürliche Recht beziehungsweise die Pflicht der Eltern ist, für ihre Kinder zu sorgen. Um dieses Recht wahrzunehmen, braucht es selbstbewusste Eltern, die ihre Kinder gut kennen und die für deren Bedürfnisse mutig einstehen. Auch nach der Geburt ist das Eintreten für Kinder gegenüber Institutionen, Autoritäten, der Familie und zuweilen des Partners eine konstante Herausforderung für Eltern, die achtsam und gewaltlos mit ihren Kindern umgehen wollen. Ständige Vorsorgeuntersuchungen bringen den Abgleich des Ist-Zustandes mit dem Soll-Zustand mit sich. Oftmals trainieren Eltern aus Angst, ihre Sprösslinge könnten die körperlichen und kognitiven Entwicklungstests nicht »bestehen«, ihren Kindern die Fähigkeiten an, auf die untersucht wird. Das kann im Hinblick auf die individuelle Entwicklung sowie der körperlichen und geistigen Konstitution eines Kindes geradezu Gewalt implizieren. Es bedeutet darüber hinaus, dass Eltern in ihrer vertrauensvollen Haltung ihren Kindern gegenüber, dass sie sich zur individuell passenden Zeit gut und richtig entwickeln werden, untreu werden. Der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Prof. Remo Largo wurde nicht müde darauf hinzuweisen, dass jedes Kind bezüglich seiner Erfahrungen sowie seiner genetischer Anlage ein einmaliges Wesen sei. Kein Merkmal sei bei allen Kindern gleich ausgeprägt und es gäbe enorme Entwicklungsfenster, in denen individuelle Entwicklungsschritte ablaufen. Er plädierte dafür, dass sich jedes Kind gemäß seines individuellen Entwicklungsplanes entwickeln dürfen sollte.
Oftmals werden Kinder von Kinderärzt:innen, die keinerlei Beziehung zu ihren Patient:innen haben, bei Vorsorgeuntersuchungen objektiviert und nicht in ihrer gesamten individuellen Entwicklung betrachtet. Da müssen Kinder zu gewissen Zeitpunkten bestimmte körperliche, geistige und emotionale Eigenschaften aufweisen, die mehr oder weniger willkürlich festgelegt worden sind, während andere, ebenso bedeutende Aspekte nicht beachtet werden und somit keine Rolle spielen. Statt den jungen Menschen insgesamt zu betrachten und darauf zu schauen, was er sonst noch alles kann, wird auf einzelne Merkmale geschaut und deren Fehlen als dringend therapiebedürftig wahrgenommen. Auch hier obliegt es den Eltern, sich selbst und ihrer Wahrnehmung ihrer Kinder treu zu bleiben und sich nicht irritieren und in Angst versetzen zu lassen, an der ein Corps von Kindertherapeut: innen gut verdient. Gelassenheit statt Förderungswahn ist hier die Maxime, denn Kindheit ist schließlich keine Krankheit, die man ausmerzen muss. Kinder müssen sich erst recht nicht immer so linear entwickeln, wie andere es sich vorstellen, sondern sie überspringen zuweilen Entwicklungsschritte, während sie bei anderen aus gutem physiologischem oder kognitivem Grund verweilen. Für dieses Recht auf individuelle Entwicklung müssen Eltern auch gegenüber Expert:innen, der Familie oder notfalls auch Partner:innen einstehen und dem Kind die Treue halten. Wird es nämlich im Zusammenhang einer objektivierenden Begutachtung oder oberflächlichen Betrachtung als unzureichend entwickelt diagnostiziert und pathologisiert, kann sein Selbstbewusstsein empfindlich darunter leiden und die Fremdwahrnehmung zur Selbstwahrnehmung werden. Das Kind nimmt sich dann als anormal, minderwertig, behandlungsbedürftig und »anders« wahr. Dabei kann jeder einzelne Mensch gar nicht anders als »anders« als andere sein. Für das Recht auf Einzigartigkeit muss auch gegenüber Kinderärzt: innen und Pädagog:innen eingestanden werden. So konnte ein Kind bei der Vorsorgeuntersuchung im 2. Lebensjahr zwar überdurchschnittlich gut sprechen, denn es verfügte über einen enormen Wortschatz, grammatisches Bewusstsein, es war wach und aktiv, doch konnte es noch nicht frei laufen. Die Ärztin machte sich unglaubliche Sorgen, sprach gar von einer Lähmung, die entgegen der Meinung der Eltern dringend abgeklärt werden sollte. Die Mutter kannte ihr Kind und sah seine Entwicklung im Ganzen. Sie blieb entgegen dem ärztlichen Rat sorgen- und angstfrei. Zwei Tage nach dem Untersuchungstermin marschierte das »gelähmte Kind« aufrecht an seiner Mutter vorbei. Es hatte die Phase des Hinplumpsens und wieder Aufstehens gänzlich übersprungen und war bereits zum Zeitpunkt des Laufenkönnens körperlich in der Lage, einen zwei Kilometer langen Marsch rund um einen See zu absolvieren, den Kinder, die früher zu gehen begonnen hatten, verträumt vom Kinderwagen aus umrundeten.
Selbstvertrauen in der Wahrnehmung von Kindern
Eltern müssen auch im Umgang mit Expert:innen, die im Zusammenhang mit ihren Kindern tätig werden, (wieder) lernen, sich selbst zu vertrauen, dass sie das Kind besser kennen als Fachleute, die keinerlei Bezug zum Kind haben. Sie sollen sich trauen, Rat einzuholen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt, sich aber ebenso trauen, nein zu sagen, wenn sie sehen, dass das Pathologisieren bzw. Therapieren ihrer Kinder übergriffig ist und Entwicklungsprozesse manipuliert. Kindlicher Individualität ist wertzuschätzend zu begegnen. Remo Largo wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Er plädierte dafür, Kinder sich körperlich, sprachlich, psychisch und geistig nach ihrem eigenen Entwicklungsplan entwickeln zu lassen. »Jedes Kind ist ein einmaliges Wesen. Nicht nur wegen der unterschiedlichen Erfahrungen, die es macht. Es ist auch in seiner Anlage einmalig.« Er vertrat weiterhin die Meinung, dass sich jedes Kind aus sich selbst heraus entwickelt, wenn es die notwendigen Erfahrungen macht. Wenn dies von Experten nicht anerkannt und respektiert wird, müssen Eltern für die Rechte ihrer Kinder auf deren individuelle Entwicklung einstehen und es ablehnen, dass diese pathologisiert werden, nur weil sie (noch) nicht ins Raster fallen. Dazu müssen Eltern jedoch die in ihrer Kindheit anerzogene Haltung der Unterwürfigkeit gegenüber sogenannter Expert:innen reflektieren und sich trauen, auf einen Dialog auf Augenhöhe zu bestehen.
Eintreten gegen adultistische Übergriffe
Kinder wissen selbst ganz genau, was ihnen guttut und was nicht. Selbst wenn sie noch ganz jung sind, wissen sie sich zu äußern, wenn es ihnen zu warm oder zu kalt ist, sie hungrig, durstig oder müde sind. Da ist ein erhobener Zeigefinger, der sagt: »dir kann es doch gar nicht zu warm oder zu kalt sein« oder »du bist doch gar nicht hungrig, durstig oder müde« wenig hilfreich. Wenn sie älter sind und den Eltern, anderen Bezugspersonen, Ärzt:innen oder Pädagog:innen mitteilen, dass sie etwas brauchen oder etwas nicht wollen, ist dem Rechnung zu tragen. Es gibt jedoch permanent Situationen, in denen Erwachsene, auch Ärzt:innen und Pädagog:innen, auf adultistische Weise übergriffig werden und kindliche Bedürfnisse entweder negieren, sie als ungerechtfertigt abtun oder gar auf deren Kosten manipulativ agieren. Dieses Tun respektvoll, aber entschieden abzulehnen, ist ein Treueakt gegenüber Kindern. Das Bedürfnis nach elterlichem Schutz steht jedoch oft diametral im Widerspruch zu den Bedürfnissen von Institutionen und deren Vertretern, das Kind in seiner schwächeren Situation ohne seine Eltern leichter »handeln« oder manipulieren zu können. Dem Kind seinen Beistand bei ärztlichen oder schulischen Untersuchungen zuzusagen und diese Zusage auch gegen den Wunsch der Ärzt:innen oder Lehrer:innen einzuhalten, bedeutet, das Kind in seinen Belangen ernst zu nehmen und ihm gerecht und treu zu bleiben. Ärzt:innen und Therapeut:innen spielen oft mit der Angst der Kinder, sich bei problematischen Behandlungen zusätzlich alleingelassen zu fühlen. So drohen sie bei vermeintlich unkooperativem kindlichem Verhalten damit, dass Eltern das Behandlungszimmer verlassen müssen. Wenn Eltern in dieser Situation nein sagen, ruhig darlegen, dass sie dem Kind versprochen haben, ihm beizustehen und dass dies nun eigehalten werden muss, stellen sie fest, dass in der Regel gar nicht weiter diskutiert wird, sondern dass es für ganz selbstverständlich betrachtet wird, dass Absprachen mit Kindern eingehalten werden. Auch bei sogenannten Schuleingangsuntersuchungen oder Schulreifefeststellungen sollen Kinder am liebsten allein und ohne Zeugen »untersucht« und »getestet« werden. Wenn Eltern von dem Schutzbedürfnis ihres Kindes wissen und ihm zusagen, es nicht alleine zu lassen, sollten sie ihr Versprechen auch halten. Es geht um die Integrität ihrer Beziehung zu ihrem Kind und diese ist viel wichtiger als das anerzogene Bedürfnis, dem Wunsch sogenannter »Autoritäten« entgegenzukommen.
Eigene Ängste erkennen und auflösen
Die Angst der Eltern vor Konfrontation wurde oftmals in ähnlichen Situationen in deren Kindheit begründet, in denen den damals jungen Menschen niemand schützend zur Seite gestanden hat und sie sich eingeschüchtert, verängstigt und allein gelassen gefühlt haben. Es ist wichtig und Zeit, dass die Weitergabe solcher traumatischer Ereignisse von Generation an Generation ein Ende hat und Kindern gegenüber die Treue an den Tag gelegt wird, die sie verdienen. Es ist fatal für das vertrauensvolle Eltern-Kind-Verhältnis, wenn sich Eltern aus Angst vor Konfrontation auf die andere Seite stellen und die Schutzbedürfnisse ihrer Kinder verraten oder sogar lächerlich machen. Es geht hier um die Vermeidung traumatischer Erlebnisse, die weit in die Zukunft hinein nachwirken und nicht um die bequeme Befriedigung adultistischer Interessen anderer Menschen.
Fremdbetreuung brauch‘ ich nicht
Ein besonderer Bereich, in dem Eltern ihren Kindern treu bleiben sollten, ist der Umgang mit dem Bildungssystem. Schon im Kindergarten- oder Kita-Alter äußern manche Kinder klar und unmissverständlich, dass sie nicht fremdbetreut werden wollen, sondern stattdessen die ge- Eltern kennen ihre Kinder am besten und sollten sich daher trauen, »nein« zu sagen – im Interesse ihrer Kinder. 2/2022 – 43 wohnte Umgebung zu Hause sowie den Umgang mit den gewohnten Bezugspersonen brauchen, um sich wohl zu fühlen. Jede Trennung wird von solchen Kindern als traumatisch wahrgenommen, während Kindergartenpädagogen meinen, der Besuch einer Betreuungsanstalt sei vorteilhaft für das Sozial- und Bildungsverhalten des Kindes. Dies führt die Eltern oftmals in Konflikte, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Selbst wenn finanzielle Gründe nicht im Vordergrund stehen, spüren Eltern, vor allem Mütter, den Druck durch die Familie, Nachbarn, Kinderärzt: innen und den Medien, dass Kinder in den Kindergarten »gehören« damit sie soziale Kontakte knüpfen, sich mit anderen Kindern sozialisieren und an frühkindlichen Bildungsmaßnahmen teilnehmen können. Was tun, wenn das Kind sich mit Händen und Füßen wehrt und dauerhaft zum Ausdruck bringt, dass es nicht fremdbetreut werden möchte? Viele Mütter manipulieren ihre Kinder durch Belohnung oder Beschämung, trotz ihres inneren Widerstandes, in den Kindergarten zu gehen, weil sie dem Druck der Umgebung nicht standhalten können. Unfreiwillige, unglückliche Trennungen von den primären Bezugspersonen werden jedoch als dermaßen lebensbedrohlich erlebt, dass es zu massiven physiologischen wie psychologischen Störungen kommen kann. Die bekannte Wiener Kinderkrippenstudie WiKi, die von 2007 bis 2012 vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien durchgeführt wurde konnte aufzeigen, dass der Cortisol-Spiegel von Kindergartenkindern generell stark erhöht ist, was frühkindliche stressbedingte Krankheiten fördern und zu starken Verunsicherungssymptomen führen kann. »Die Kinder sind auch dann noch gestresst, wenn man es von ihrem Verhalten her nicht denken würde«, sagt WiKi-Forscherin Lieselotte Kleinert vom Institut für Entwicklungspsychologie der Universität Wien. Wenn Kinder sich jedoch grundsätzlich nicht zur Fremdbetreuung eignen, sind die Stresserscheinungen um ein Vielfaches stärker. Manche Kinder schreien bis zur Bewusstlosigkeit, während andere sich durch dissoziative Abspaltung in den Überlebensmodus bringen, um ihre psychische Integrität zu schützen. Auch hier wäre ein treues Einstehen für die kindlichen Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit trotz großem Druck von außen von entscheidender Wichtigkeit, selbst wenn neue Wege der Kinderbetreuung mit finanziellen Einbußen verbunden sind und gesellschaftlich nicht anerkannt werden. Manche Mütter berichten, dass sie eher auf ein Auto, den Urlaub oder andere Annehmlichkeiten verzichten, als ihren Kindern untreu zu werden, indem sie sie jeden Tag gegen ihren erklärten Willen an einen Ort bringen, an dem sie absolut nicht sein wollen.
Selbstbestimmte Bildung
Viel folgereicher als die Verweigerung des freiwilligen Kindergartenbesuches ist jedoch die Ablehnung des Schulbesuches. Viele Eltern stellen fest, dass ihre Kinder unter dem Schulbesuch leiden und sie körperlich und seelisch krank werden. Selbst wenn die Kognitionswissenschaft eindeutig feststellt, dass Lernen eine hochgradig individuelle, kreative und autonome Tätigkeit darstellt (vgl. Sinn-voll lernen. Lernen ist wissenschaftlich besser untersucht als wir glauben sollen In: unerzogen Magazin 1/20), sieht das Schulgesetz, zumindest in Deutschland, vor, dass die Beschulung im Klassenverband einer Lehranstalt bis auf ganz wenige Ausnahmen Pflicht ist. Auch hier steht die Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse durch die Eltern in Konflikt mit den Erwartungen der Gesellschaft, der Bildungspolitik und dem Gesetz. Immer mehr Eltern sehen allerdings klar, dass ihre Kinder leiden, wenn sie zu einem Zeitpunkt, der ihrem individuellen körperlichen oder kognitiven Entwicklungsprozess nicht förderlich, sondern schädlich ist, zu manuellen oder mentalen Operationen gezwungen werden, zu denen sie in ihrer Entwicklung noch nicht bereit sind. Wenn der Leidensdruck in der Schule immer größer und die angeborene Freude am Lernen immer kleiner wird, stellen sich immer mehr Eltern auf die Seite ihrer Kinder und suchen nach Alternativen zum Bildungssystem, was bedeutet, dass sie Deutschland verlassen müssen.
In den meisten europäischen Ländern sind außerschulische Lernwege legal. Während man in manchen Staaten, wie Österreich, eine sogenannte Externist:innenprüfung ablegen muss, die die Gleichwertigkeit des häuslichen Unterrichtes nachweist und die sich inhaltlich am staatlichen Lehrplan orientiert, gestatten Staaten, wie Großbritannien, Irland, Dänemark etc., den Kindern das autonome, selbstverantwortliche Lernen ohne Prüfung. Wenn Eltern sich aus Solidarität mit ihren Kindern aus schulischen Gründen zur Emigration gezwungen sehen, stellt dies eine massive Veränderung der familiären Lebensumstände dar. Doch diesen Weg zu gehen, stellt für viele Eltern die einzige Option dar, das Leiden ihrer Kinder zu beenden, ihnen eine gelungene und zu ihnen passende Bildung zu bieten, die die angeborene Freude am Lernen wieder möglich machen soll. Es sind Bildungspioniere, die ihre eigenen adultistisch-geprägten Bildungserfahrungen mit der Institution Schule reflektieren konnten und die aktiv dafür einstehen, dass sich ihren Kindern Alternativen zum etablierten Bildungssystem auftun.