Es folgt eine kritische Stellungnahme zu einem OGH-Urteil zur Schulpflichtverletzung. Obwohl aktuell keine Kindeswohlgefährdung stattfand, wurde eine solche als langfristig denkbar angenommen und so kam es zu einem Obsorgefahren.
Es lohnt sich auch, das ganze Urteil zu lesen inklusive der Begründung. Hier ein Auszug und danach folgt unsere Stellungnahme:
„3.2. Dadurch, dass der Sohn keine Nachweise über Schulabschlüsse erworben hat und – sollte die Erziehung so weitergehen – aller Voraussicht nach auch bis zu seiner Volljährigkeit weder einen Pflichtschulabschluss noch ein Maturazeugnis erwerben wird, ist sein berufliches Fortkommen erheblich beeinträchtigt. Es ist zwar nach den Feststellungen nicht ausgeschlossen, dass er einen Beruf erlernen kann, der exakt seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Jedoch gilt dies nur, wenn er kein Wissen nachweisen muss, das er nicht erlangt hat.
Es ist allgemein und daher auch den Gerichten bekannt (weshalb in der Unterlassung der Einholung eines berufskundlichen Gutachtens durch das Rekursgericht auch kein Verfahrensmangel liegt), dass ohne Bildungsnachweise unselbstständige Berufe – von bloßen, schlecht bezahlten Hilfstätigkeiten abgesehen – nicht oder nur sehr schwer zu erlangen sind.
Jedoch sind auch für viele selbstständige Berufe Bildungsnachweise erforderlich. Für die meisten Berufe, für die der aufgeweckte Sohn die nötigen Begabungen mitbringt, wird ihm daher mangels jeglicher Bildungsnachweise voraussichtlich der Weg verschlossen bleiben, wenn an der bisherigen Erziehung im Bereich der Bildung nichts geändert wird. Schon die realistische Möglichkeit einer derart schwerwiegenden Beschränkung seiner beruflichen Perspektiven gefährdet das Kindeswohl.“
Wovon zeugt das Urteil?
Uninformiertheit, Desinteresse und Vorurteilen gegenüber außerschulischen Bildungswegen
Diese Tatsachen wurden völlig ignoriert:
- Es ist in Österreich jederzeit möglich, Schulabschlüsse ohne vorherigen Schulbesuch zu machen.
- Auch ohne Pflichtschulabschluss kann eine Lehre aufgenommen werden.
- Für viele Ausbildungen sind Aufnahmeprüfungen vorgesehen, die unabhängig von Schulabschlüssen gemacht werden können.
- Für viele Ausbildungen sind keinerlei Schulabschlüsse oder Aufnahmeprüfungen notwendig.
- Eine zunehmende Zahl großer internationaler und regionaler Betriebe legt bei der Personalauswahl größten Wert auf soziale Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit und emotionale Intelligenz sowie auf tatsächlich vorhandene fachliche Qualitäten und praktische Fähigkeiten. Die Bedeutung von Zeugnissen tritt immer mehr in den Hintergrund.
Außerdem werden Annahmen ohne jegliche faktische Basis getroffen und „Stammtischaussagen“ („Es ist allgemein bekannt…“) getätigt, anstatt den Stand der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet zu berücksichtigen. Besonders unangebracht finden wir die Aussage „Schon die realistische Möglichkeit einer derart schwerwiegenden Beschränkung seiner beruflichen Perspektiven gefährdet das Kindeswohl.“
Zu dieser Annahme konnten wir weder in § 138 ABGB (Kindeswohl) noch in einer anderen Rechtsvorschrift irgendwelche Hinweise finden. Mit der gleichen Argumentation müsste man angesichts der ca. 20% aller PflichtschulabsolventInnen, die nicht sinnerfassend lesen können (= funktionale Analphabeten) bzw. der mindestens 40% aller SchülerInnen, die nach 9 Jahren Pflichtschule die minimalen Bildungsziele (Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen) nicht erreichen, ebenfalls von Kindeswohlgefährdung sprechen! Uns ist allerdings nicht bekannt, dass die Familiengerichte und Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in diesen Fällen bezüglich Kindeswohlgefährdung aktiv werden.
Zur rechtlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik empfehlen wir die Lektüre des Tagungsbandes „Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung?“ (Kern [Hrsg.] 2018), insbesondere den darin enthaltenen Artikel „Selbstbestimmte Bildung: Eine empirisch psychologische Perspektive“ von PD Dr. Roland Thomaschke.
Zum Beispiel interessant:
- Die freundschaftlichen Beziehungen „heimbeschulter“ Kinder weisen größere Nähe auf und sind weniger konfliktanfällig als die Freundschaften „präsenzbeschulter“ Schüler (McKinley et al. 2007).
- Bei „Homeschoolern“ zeigen sich signifikant seltener Problemverhaltensweisen (Mobbing, Aggression etc.) und signifikant häufiger prosoziale Verhaltensweisen (Haugen 2004, Schyers 1992).
- „Homeschooler“ haben im Durchschnitt ein stärkeres Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsgefühl (Knowles & Muchmore 1995).
- „Homeschooler“ sind häufiger intrinsisch motiviert (Batterbee 1992). Intrinsisch motivierte Menschen sind generell zufriedener, gesünder, produktiver und erbringen bessere Leistungen (Deci & Ryan 2008, Schunk et al. 2012).
- „Homeschooler“ erreichen höhere Führungsqualitäten (Sutton & Galloway 2000) und höhere unternehmerische Kompetenz (Pannone 2017).
- (…)
Die komplette Stellungnahme gibt’s hier zum Download.