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Die Rhytmen und Rituale unserer Kinder

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Nachdem André Stern sich in seinen letzten beiden Büchern der Wichtigkeit des Spiels und des Lernens durch Begeisterung gewidmet hat, beschäftigt er sich in seinem neuen, im März erschienenen Buch mit den „Rhythmen und Ritualen unserer Kinder“. Ein Thema, wozu es laut Stern noch kein Buch gab. Das erstaunt vielleicht zunächst, denn Bücher mit der Aussage, wie wichtig Rituale für Kinder sind, gibt es genug. Doch unterscheiden sich diese wohl grundlegend von André Sterns aktuellem Werk. Wieder ist der Autor darum bemüht, eine Haltung zu beschreiben, die dem jungen Menschen Respekt und Verständnis entgegenbringt. Es geht also nicht um Rituale, die Eltern ihren Kindern auferlegen oder schmackhaft machen, damit diese in deren Tagesplanung hineinpassen. Das Ritual als Zeichen der Kraft des jungen Menschen, sich zu erschaffen, sich in dieser Welt zurechtzufinden und seinen Platz einzunehmen: Dieses Ritual steht in Sterns Buch im Fokus. Und in weiterer Folge: die Ehrfurcht vor der organischen Entwicklung jedes einzelnen Menschen.

Was also meint André Stern mit Rhythmen und Ritualen? Zunächst etwas sehr Banales. Etwas Selbstverständliches, das aber oft übersehen wird. Etwas, das alle Eltern wahrnehmen, wenn sie ihre Kinder beobachten: die vielen Wiederholungen im Sein und Tun eines jungen Menschen. Diese Wiederholungen betreffen Spiele, Tätigkeiten und Abläufe. Mit der Zeit ergeben sich daraus gut erkennbare Rythmen und wahre Rituale, die – wie Stern am Ende des Buches beschreibt – allen Menschen helfen und dienen: nicht nur sehr jungen. Umso wichtiger ist es aber, sie bei den jungen zu achten und ihren reibungslaufen Ablauf – wann immer es geht ­– zu ermöglichen. Warum? Weil es schlicht und ergreifend ein Zeichen von Respekt ist, die Wichtigkeiten anderer Menschen (sowie auch die eignen) zu schätzen und zu unterstützen. Stern sieht darin eine zentrale Aufgabe der Bezugspersonen: den jungen Menschen zu dienen. Gemeint ist nicht das Bedienen, sondern das Unterstützen, die Care-Arbeit, das Wissen um die Wichtigkeit des „Ins-Leben-Begleitens“ – mit dem Zugeständnis des eigenen Weges und Tempos des jungen Menschen. Es geht André Stern darum, die kleinen und oft als unwichtig angesehenen und übersehenen Dinge im Leben junger Menschen als große und essentielle herauszustreichen, weil sie in deren Entwicklung grundlegend und sinnvoll und in ein größeres Ganzes eingebettet sind.

Obwohl diese Rhythmen und Rituale tatsächlich eindeutig bei jedem jungen Menschen zu identifizieren sind (wenn auch bei jedem grundverschieden ausfallen), werden sie dennoch oft nicht erkannt, geschweige denn wertgeschätzt. So gilt das Kind nach wie vor als schwierig, wenn es darauf besteht, dass seine Serviette links und sein kleiner Löffel rechts des Tellers liegt. Oder wenn der Heimweg immer durch exakt dieselben Gassen wie schon die hundert Male davor führen muss. Stern gibt zahlreiche solcher Beispiele und „entlarvt“ sie als aus Sicht des Kindes absolut sinnvoll. So wird nicht nur gelernt; so wird auch Sicherheit und in Folge Entspannung erfahren. Es sind die Erwachsenen, die es nach Abwechslung dürstet, nicht die Kinder. Leider ist das, was hier so selbstverständlich klingt, noch lange nicht gang und gäbe in der Begleitung junger Menschen, da sich Voruteile vom berechnenden Kind halten. Und auch, weil das Beharren der jungen Menschen auf ihren Abläufen meist jene der Erwachsenen stört. Stern lädt ein zum „Hinter-die-Kulissen-Blicken“. Letztendlich lädt er ein zu Empathie,Bewusstheit und einer Lebensweise, die die Zeit, den Raum und den Rahmen gibt, um Rhythmen und Rituale nicht nur zu entdecken und zu entwickeln, sondern auch um sie leben zu können.

Ein ausführliches Kapitel widmet Stern dem Umgang mit Bildschirm-Medien. Er sieht in deren Verwendung keine Probleme, sofern der Umgang bewusst erfolgt. So erinnert er Eltern an das gemeinsame Erleben, die „shared attention“: Ein Video gemeinsam zu schauen, sich gemeinsam einem Ereignis zu widmen, in Verbindung zu sein währenddessen und danach darüber zu reden, ist etwas Anderes, als das Kind vor dem Computer oder Handy zu parken. Auch sei es Aufgabe der Eltern, die Qualität des Inhalts sicherzustellen. Und vor allem auch: eine Qualität der Zeit ohne Bildschirm zu gewährleisten.

Wie üblich lässt Stern Wegbegleiter zu Wort kommen, beschäftigt sich mit dem Lernen und der Begeisterung und gibt Einblicke in sein Privatleben. So ergibt sich eine Sammlung begeisterter und begeisternder Erfahrungen und Erkenntnisse; ein Buch, das die Haltung des Respekts und des Vertrauens fühlbar macht, mitreißt und aufweckt. „Weil die Zukunft der Welt mit den Kindern beginnt“…

Susanne Sommer

 

Die Rhytmen und Rituale unserer Kinder

André Stern
Beltz
184 Seiten
ISBN: 978-340-786-6-615
erschienen: 2021