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Zeitlos Lernen, Teil 2

Die kognitive Wende führt zum Paradigmenwechsel

In den 1950er-Jahren übte Noam Chomsky, der wohl bekannteste und revolutionärste Linguist der Gegenwart, scharfe Kritik an dem bis dahin vorherrschenden Strukturalismus und an der damit verbundenen Lerntheorie des Behaviorismus. Er stellte die Frage, wie es denn sein könnte, dass kleine Kinder überhaupt jemals eine Sprache lernen können, wenn es auf absolut perfekten Sprachinput ankäme.

Menschen machen in der konkreten Sprachanwendung eigentlich fast ständig sprachliche Fehler, ändern angefangene Sätze, stammeln, stottern, schweifen ab, benutzen grammatikalisch falsche Formen, wenn sie unkonzentriert, verliebt, nervös oder müde sind. Nach behavioristischer Lerntheorie basieren erfolgreiche Lernprozesse allerdings allein auf fehlerfreiem Input. Doch dann würden Kinder niemals in der Lage sein, trotz der vielen falschen Sprachdaten, denen sie pausenlos ausgesetzt sind, eine Sprache richtig zu lernen.

Chomsky folgerte daraus, dass sich im Kopf des Menschen etwas befinden müsse, das nicht nach behavioristischen Lernmethoden, also nicht verhaltensorientiert und nicht imitierend, funktioniert. Er nannte das das Human Language Acquisition Device, das menschliche Spracherwerbinstrument bzw. Sprachlerninstrument. Er formulierte die These, dass die Fähigkeit des Menschen, eine oder auch mehrere Sprachen zu lernen, eine ihm angeborene Kompetenz sei.

Diese Kompetenz basiere darauf, dass das menschliche Gehirn, gerade auch das Gehirn von kleinen Kindern, in der Lage sei, aus all dem falschen Sprachinput, durch selbstständiges Nachdenken, nicht durch Imitation, das Richtige heraus zu filtrieren und zu lernen. Das Kind lernt die sprachlichen Regeln autonom und aktiv, also ohne die Notwendigkeit, ihm Grammatikregeln einbläuen zu müssen.

Diese Erkenntnis war revolutionär. Die darauf fußende zweite Erkenntnis war gleichfalls revolutionär, denn sie widerspricht der behavioristischen Theorie, dass erfolgreiches Lernen in der erfolgreichen Imitation von zuvor Gesagtem, Gehörtem und Beobachtetem zu sehen ist: Durch die durch eigenes Nachdenken erworbene Kenntnis einer begrenzten Anzahl von Sprachregeln kann ein Mensch eine unendlich große Anzahl sprachlich rich- tig strukturierter Sätze bilden, sogar solche, die noch nie zuvor gesagt worden waren.

Die kognitionswissenschaftliche Perspektive auf das Lernen

Chomskys Erkenntnisse über das kindliche Sprachenlernen brachten die Kognitionswissenschaften zusammen. In den kognitionswissenschaftlichen Disziplinen wurde von- einander unabhängig festgestellt, dass beim Lernen das Gehirn und nicht das Verhalten aktiviert werden muss. Außerdem wurde bestätigt, dass Wahrnehmung, Verständnis und Informationsverarbeitung bei jedem Einzelnen selbstständig und in Abhängigkeit von individuellem Vorwissen und Erfahrungen durchgeführt werden muss.

In der Psychologie konnte Ulric Neisser bereits 1967 explizit nachweisen, dass selbst die visuelle Wahrnehmung des Menschen nicht unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt stattfindet, sondern vom bestehenden Wissen und der Erfahrung des Informationsverarbeiters beeinflusst wird. In der kognitiven Psycholinguistik brachten Eleanor Roschs Forschungen zur Prototypentheorie in den 1970er Jahren zutage, dass es innerhalb einer Kategorie Repräsentanten gibt, die von einzelnen Sprechern für mehr oder weniger typisch akzeptiert werden.

Meine eigenen wissenschaftlichen Forschungen zur Prototypentheorie mit Muttersprachlern des Deutschen, Britisch-Englischen, US-Englischen sowie des Ghana-Englischen führten ebenfalls zum Ergebnis, dass die Wahrnehmung und dadurch die Bedeutung sprachlicher Begriffe und Kategorien hoch- gradig abhängig sind von der geografischen Herkunft und der Kultur, dem Alter, dem Ge- schlecht, der sozio-ökonomischen Situation und schließlich von der Sprache an sich.

Die Realität ist ein Kontinuum, und die Bereiche, die daraus entnommen und sprachlich besetzt werden, variieren von Sprache zu Sprache und sogar innerhalb einer Sprache von Sprecher*in zu Sprecher*in. Der Farb- verlauf des Regenbogens ist ein Beispiel für dieses Kontinuum. Es gibt theoretisch eine unendliche Anzahl unterschiedlicher Farben, praktisch greifen sich die Sprecher*innen einer Sprache jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Farben heraus, für die sie eine sprachliche Bezeichnung festlegen.

Es gibt Sprachgemeinschaften, die nur die Unterscheidung zwischen hellen und dunklen Farben kennen und deshalb nur zwei Farbbegriffe aufweisen: schwarz und weiß. Die russische Sprache hingegen nimmt das, was im Deutschen mit hellBLAU und dunkelBLAU derselben Sprachkategorie BLAU zugeordnet wird, als grundsätzlich unterschiedliche Farben wahr und hat dafür gänzlich unterschiedliche, von einander unabhängige sprachliche Lexeme: goluboi entspricht hellblau, sinii dunkelblau. Im Englischen wird zwischen PINK und ROT differenziert, deshalb ist PINK keine Variante von ROT, also nicht hellROT. Im Deutschen gibt es hingegen die Farbe rosaROT, die semantisch der Kategorie ROT zugeordnet wird. Die Grenzen sprachlicher Begriffe und Kategorien sind somit hochgradig willkürlich festgelegt. Jede*r, der/die sich schon einmal mit jemand anderem über die richtige Farbenbezeichnung gestritten hat, weiß, dass nicht allein die Sprache, sondern auch die individuelle Wahrnehmung die Bedeutung und Grenzen von Kategorien definiert.

Je mehr Bewusstsein, je mehr Vorwissen und je mehr sprachliche Begrifflichkeiten für einzelne Elemente dieses Vorwissens zur Verfügung stehen, desto differenzierter ist die Wahrnehmung, auf der die Informationsverarbeitung im Gehirn beruht.

Das Prinzip des Lernens auf Basis von bereits existierendem Wissen wird sehr transparent, wenn Kinder ihre Muttersprache lernen. Das Verstehen neuer Wörter und die Erweiterung ihres Vokabulars vollziehen sich absolut und notwendigerweise auf der Basis bis- lang bekannter Wörter. Ist zum Beispiel der Wochentag Dienstag als Teil des mentalen Sprachlexikons bereits bekannt, dann verstehen Kinder zunächst „ValenDienstag“, statt Valentinstag und können meinen, die Mama nehme sie auf den Arm, wenn diese behauptet, der „ValenDienstag“ sei am Mittwoch. Wenn das Kind den Begriff Marzipan schon gut und gerne in Kopf und Mund hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Japaner zunächst als Jarzipaner verstanden werden, logisch und nachvollziehbar. Auch ältere Menschen können nicht anders, als neue Phänomene auf Basis ihres individuellen Vorwissens wahrzunehmen. Die Fledermaus hat biologisch nichts mit der Gattung der Mäuse (murinae) zu tun. Sie erinnerten die Menschen jedoch aufgrund ihres Aussehens an Mäuse, sodass die Sprecher und Sprecherinnen ihr bereits existierendes Konzept von Mäusen sprachlich auf Fledermäuse ausdehnten. Im Englischen hat man dies hingegen nicht ge- macht, weshalb die Gattung nicht fluttering mouse, sondern bat heißt.

Auch in nicht-sprachlichen Bereichen können Wahrnehmungs- und Lernprozesse nicht unabhängig von Vorwissen und Erfahrungen ablaufen. Wenn ein*e Förster*in oder Biologe*in durch den Wald geht, dann nimmt er*sie, in Abhängigkeit seines*ihres Vorwissens, viel mehr und ganz andere Dinge wahr als ein Laie, der nicht viel mehr als Bäume und Büsche sieht. Ebenso ist es, wenn ein Laie unter die Motorhaube eines Autos schaut. Während viele Menschen schon froh sind, wenn sie den Motor als solchen wahrnehmen, sehen Spezialisten*innen jede Menge mehr, in Abhängigkeit ihres Vorwissens, ihrer Erfahrung und ihrer sprachlichen Konzepte, mit denen sie „ein Ding“ von anderen „Dingen“ differenzieren können.

Maria-Sophie Frei
Kognitionswissenschafterin/Linguistin Amerikanistin und Juristin

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