Erfahrung in autonomer Zeitplanung ist nicht nur in Krisenzeiten von Vorteil
Während sich in der breiten Bevölkerung Stimmen häufen, die sich über gähnende Langeweile durch die Ausgangsbeschränkungen beklagen und sich insbesondere Eltern über ihre maßlose Überforderung im Umgang mit dem erzwungenen häuslichen Unterricht auslassen, sehen sich FreilernerInnen und reguläre Homeschooler weit weniger in ihrem normalen Tagesablauf beeinträchtigt. Selbstverständlich leiden auch sie unter dem Wegfall der Möglichkeit, sich spontan mit ihren FreundInnen zu treffen, Sport zu treiben, an Vereinstreffen teilzunehmen oder spontan ausgehen zu können, denn ihre Lebenssituation mit dem erhöhten Maß an zeitlicher Selbstbestimmung fördert solche spontanen Treffen. Doch gerade weil sie es gewohnt sind, ihre Tage sinnerfüllt für sich selbst zu gestalten und weil ihre Bildungszeiten ohnehin nicht an Stundenpläne gebunden sind, droht ihr Leben derzeit nicht zu entgleisen.
Kinder in Krippen, Kindergärten und Schulen sind es seit jüngsten Jahren gewohnt, in ihrer Tagesplanung permanent fremdbestimmt zu werden. Ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Ausscheidungen, Trost, Beruhigung, Ruhezeiten, Bewegungsdrang, Spieltrieb und Entdeckerfreude werden in der Regel den Bedürfnissen der Erwachsenen und denen der Betreuungsinstitutionen untergeordnet. Kann es sein, dass Menschen, die sich in Bildungsinstitutionen bilden, niemals gelernt haben, über ihre Lebenszeit sinnvoll zu verfügen? Kann es sein, dass sich bereits Kinder gestresst fühlen, wenn von außen auferlegte Zeitvorgaben wegfallen und tatsächlich freies Spiel möglich wäre? Sind wir überhaupt noch in der Lage, langfristigere Projekte selbst zu planen und zu Ende zu führen oder müssen wir alles kaufen, weil wir selbst nichts mehr auf die Reihe bringen?
In der Schule müssen sich SchülerInnen im 50 Minuten-Takt für vorgegebene „Fächer“ interessieren, gegeneinander konkurrieren und genau so lange um die Gunst der LehrerInnen konkurrieren, bis die Schulglocke dem Gedankenstrom ein jähes Ende setzt und sofortiges Umschalten auf das nächste Fach auf dem Stundenplan steht. Dadurch lernen es junge Menschen tatsächlich nicht mehr, sich längerfristig zu konzentrieren und sich gedanklich auf umfangreichere Projekte einzulassen. Selbst das freie Spiel, zu dem in der Corona-Krise jetzt Zeit wäre, wird somit als langweilig, ungewohnt und somit als ungewohnter Stress empfunden. Dabei führt das freie Spiel zu den nachhaltigsten Lernerfahrungen und den elementarsten Menschheitserfahrungen, wie es der deutsche Dichter Friedrich Schiller schon ausgedrückt hatte: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in vollster Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Das völlige Aufgehen in einer selbstbestimmten Tätigkeit, jenseits von Stress, Angst und Langeweile, beschenkt uns mit dem Gefühl des Einklangs mit der Welt und mit uns selbst. „Flow“ nennt sich dieser Zustand absoluter Vertiefung. Dabei lernen junge und ältere Menschen nicht nur Konzentrationsvermögen, Fähigkeiten und Inhalte, mit denen sie sich beschäftigen, kinderleicht. Sie erleben auch Selbstwirksamkeit, Verantwortung für den gesamten Tätigkeitsprozess, ihre Talente und Leistungsfähigkeit nachhaltig kennen.
Beruflicher Erfolg basiert in der Realität nicht allein auf Noten und Abschlüssen. Er hängt auch ganz maßgeblich davon ab, ob sich die jungen Menschen VOR der Berufswahl gut genug kennen, damit sie ihre wahre Berufung nicht übersehen. Dies geschieht am besten und am nachhaltigsten, wenn sie wissen, wo ihre Talente, Interessen, Stärken und Schwächen liegen. Diese zu entdecken, braucht Zeit und Muße, nicht das Gefangensein und die zeitliche Unrast im schnell sich drehenden Hamsterrad. Deshalb kann die Corona-Krise mit den damit verbundenen zeitlichen Möglichkeiten auch für nicht-FreilernerInnen DIE Gelegenheit sein, Zeit sinnvoll nutzen zu lernen, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu besinnen. Dazu gehört auch, dass Kinder zu sich selbst finden können und sich mit Dingen beschäftigen dürfen, für die sie wirklich brennen. Eine bessere Studien- und Berufsvorbereitung gibt es nicht. Wir müssen ihnen nur den Raum und das Vertrauen schenken.
Mag. Marie-Sophie Frei