Heute teilen wir einen Beitrag von Arno Stern mit einem Aufruf an die Eltern:
Wir haben Türen und Fenster verriegelt und die Stadt verlassen, so wie viele von der Seuche Bedrohten. Und nun warten wir, hoffnungsvoll und geduldig auf das Überwinden der sich verbreitenden Gefahr. Das Gefährdetsein ist für mich das Wiedererleben meiner unvergesslichen Jugendjahre – der 12 Jahre des Tausendjährigen III. Reiches.
Meine Pariser Malspielstunden sind stillgelegt, so wie unsere anderen alltäglichen Tätigkeiten, und hier, inmitten der ersten blühenden Büschen betrachte ich das in seiner Unbeendetheit dastehende Forschungsinstitut, und ich schreibe.
Zu Beispiel diesen Aufruf an die ratlosen Eltern:
„Das Wiederbeleben der Spontaneität.“
Die Schulen und die Museen sind geschlossen. Die Eltern werden jetzt bereichernde Momente mit ihren Kindern erleben, werden an deren schöpferischen Fähigkeiten teilhaben. Sie werden, dank ihrer fördernden Gegenwart, Wunder bezwecken.
Die angeborenen Begabungen waren von den auferlegten Vorlagen verkümmert. Jetzt erholen sich die Kinder von der Bedrängnis des Schülerseins, des Belehrtwerdens.
Geben Sie ihren Kindern ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber und seien Sie ein schweigsamer und deshalb fördernder Zeuge des Spieles, das Sie somit ermöglicht haben. Dringende Voraussetzung ist jedoch Ihre überzeugte Zurückhaltung, das heißt, eine schweigsame Zustimmung. An Ihrem Verhalten nimmt das Kind wahr, dass es ein unbezweifeltes Können besitzt. Das Kind bedarf keines Vorbildes, keiner Anweisung. Vorgedruckten Umrisse sind genau so hemmend wie ein vorgeschriebenes Thema. Ich frage mich immer: wie konnte sich jemand einbilden, dass Ausmalen vorgezeichneter Umrisse ein bereicherndes Spiel sei? Das wahre Innenleben kann sich doch nicht in fremden Vorbildern äußern, während seine eigenen Gebilde zum Verschwinden verurteilt sind.
Selbst wenn das dem Wahren entwöhnte Kind an seiner Fähigkeit zweifelt und behauptet, es könne nichts Eigenes bilden, ermutigen Sie es mit Ihrer überzeugenden Einstellung. Seine angeborene Selbstständigkeit wird wieder belebt sein und sich zur Begeisterung steigern.
Seien Sie auch großzügig und geben Sie dem Kind, anstatt irgendwelches Abfallpapier, weiße A4-Blätter und verlangen Sie keine Kommentare oder ergänzende Erklärungen, so wie das leider üblicherweise geschieht. Es geschieht, weil man im Allgemeinen nicht weiß, dass der Spur eine andere Rolle eigen ist, als der wörtlichen Sprache.
Legen Sie das beendete Bild in ein Fach, oder in eine Schublade und geben Sie dem Kind ein Neues, damit sein Spiel noch ein wenig weiter geht.
Was ich Ihnen vorschlage habe ich bei meinen Kindern erlebt, und es geschieht auch gegenwärtig bei meinen Enkeln. Es sollte für einen jeden selbstverständlich sein. In diesem Spiel wird eine in unserer beigebrachten Lebensweise vernachlässigte Eigenschaft belebt. Wir sind zu Vernunftmenschen erzogen worden, was auf Kosten einer anderen Eigenschaft geschah: der Spontaneität. Es ist wichtig, diese zu beleben. Ihr Gedeihen und deren Folgen sind eine unermessliche Bereicherung.
Mein Wunsch ist, Sie mit meiner Überzeugung anzustecken. Sie wissen wohl, dass diese meiner 70-Jährigen Erfahrung entwachsen ist. Auf diese können Sie sich berufen.
Arno Stern, 30. März 2020
(c) Institut Arno Stern