Keine Frage wird häufiger über unseren Lebensstil gestellt als diese: Wie macht ihr das?
Sicher, wir haben alle das Schulsystem durchlaufen und die meisten von uns können sich nicht vorstellen, wie selbstgesteuertes, informelles Lernen (gefällt mir viel besser als „Unschooling“, ist aber weniger verbreitet und bekannt) aussehen kann. Auch wenn wir es alle tun, ohne es zu merken.
Warum?
Weil es natürlich ist, so wie wir als Menschen funktionieren. Vom ersten bis zum letzten Atemzug lernen wir. Wir können nichts dagegen tun: Wir müssen ein Problem lösen, wir finden ein neues Interesse, wir sind begeistert von etwas und versuchen sofort, so viel wie möglich darüber zu lernen. Dieses völlig natürliche Phänomen wird nur unterbrochen – oder besser: gestört -, während wir beschult werden.
Wie kommt das?
Im traditionellen Schulsystem wird uns gesagt, was, wann und wie wir lernen sollen. Die Verantwortung wird dem Lernenden genommen. Immer wieder wird ihm gesagt, dass jemand anderes es besser weiß. Stillsitzen und auf Antworten zu warten, nach denen er vielleicht nicht gefragt hat, ist seine Arbeit. Der ständige Wettkampf, der Kampf darum der „Beste“ zu sein, ist die Norm.
Die Ergebnisse eines solchen Systems sind passiv-aggressives Verhalten, geringes Selbstwertgefühl, Frustration und Depression.
Du könntest jetzt etwas sagen wie: „Aber es hat mir auch nicht geschadet, also kann es nicht so schlimm sein.“
Bist du sicher, dass es dir nicht geschadet hat? – Was und wer wärst du, wenn du in einer Umgebung aufgewachsen wärst, in der dir bedingungslos vertraut worden wäre, du gefördert und ohne Erwartungen geliebt wurdest? In der DU der Meister deines eigenen Lernens, deines eigenen Lebens bist?
Du sagst: „Aber das ist viel zu viel Verantwortung für ein Kind. Kinder wissen nicht, was sie brauchen oder was für sie gut ist!“
Schau dir ein Kleinkind an, das laufen lernt. Niemand unterrichtet es. Trotzdem weiß es genau, was zu tun ist und wie. Es scheitert immer und immer wieder, aber schließlich ist es erfolgreich. Nichts ist vergleichbar mit dem Funkeln in den Augen dieses Kindes. Es braucht keine Belohnung, der Akt selbst ist bereits die Belohnung. DAS ist Unschooling (auf dem Level eines einjährigen Kindes).
[Ich verwende hier ‚Kind‘, auch wenn dieser Begriff historisch und gesellschaftlich gesehen nicht optimal ist, denn er wirkt unter Umständen sehr herablassend. Andererseits erspart er mir, im Text immer das geeignetere ‚Sohn oder Tochter‘ zu verwenden – der Text ist so schon sehr lang!]
Hier ist eine Liste von „Dingen“, die du benötigst, um erfolgreich zu unschoolen, egal wo du gerade bist:
1. VERTRAUEN: Der wichtigste und am schwersten zu erreichende Punkt.
Vertraue nicht nur in die Fähigkeiten deines Kindes, sondern auch in den Prozess. Und vor allem in dich.
Dies kann bedeuten, dass du deine gesamte Lebensauffassung, die Art und Weise, wie du deine Kinder, deinen Job und dich selbst siehst, ändern musst. Dies bedeutet auch, bereit zu sein, an dir selbst zu arbeiten, vor allem an dir. Deine Kinder sind bereits die perfekten Unschooler, sie wissen, was sie wollen und was zu tun ist.
Du andererseits bist trainiert darauf, in Lehrplänen, Lernzielen, Noten usw. zu denken. Um erfolgreich zu unschoolen, musst du jede vorgefasste Meinung wie die Dinge zu sein haben aufgeben und stattdessen, ja, vertrauen.
2. LIEBE: so viel wie möglich, zu jeder Zeit, ohne Einschränkung.
Eine weiterer Brummer. Die meisten von uns haben völlig vergessen, wie man jemanden wirklich liebt, ohne etwas dafür zu erwarten.
Aber, fragst du dich, wird mein Kind nicht im Leben versagen, wenn es in unserer immer kälteren Welt nie mit Schwierigkeiten und Herausforderungen konfrontiert wurde?
Wie würde es dir gefallen, wenn jemand hinter dir steht, egal was kommt? Eine Person (zumindest), die dich bei allem unterstützt, was du erreichen möchtest? Jemand, dem du vertrauen kannst (da ist es wieder!) und auf den du dich hundertprozentig verlassen kannst? Würdest du dieses Vertrauen brechen oder würdest du damit wachsen?
Ich kann dir aus 14 Jahren Erfahrung als Unschooling-Mutter versichern, dass diese Kinder ihre Flügel ausbreiten und fliegen werden. Sie können diese Welt sogar zu einem wärmeren, besseren Ort machen, weil sie vor Liebe überlaufen…
Sie haben nie gehört, dass eine Aufgabe unmöglich ist, dass sie etwas nicht tun können, also versuchen sie mit ganzem Herzen, ohne Limitierungen in ihrem Kopf, Erfolg zu haben. Und sie wachsen über sich hinaus.
Oh, und ja, das bedeutet, dass du lernen musst, dich auch selbst zu lieben, dich um dich selbst zu kümmern und dich zu respektieren.
3. OFFENHEIT & FLEXIBILITÄT: für Veränderung und Wachstum.
Bist du bereit, die Welt durch die Augen deines Kindes zu sehen? Alles in Frage zu stellen, neu zu lernen und erfahren? Bist du bereit, mit deinem Nachwuchs zusammen zu wachsen, nicht als Anführer, sondern achtsam, gemeinsam und auf Augenhöhe, eine echte Familie?
Unschooling kann ganz leicht zum größten Abenteuer deines Lebens werden.
Das kann wiederum bedeuten, dass du dich selbst ändern musst. Dies kann ein schmerzhafter oder ein befreiender Prozess sein.
Du wirst dich (deinen) Ängsten stellen müssen. Möglicherweise musst du deinen alten Kokon verlassen, und der neue könnte noch nicht hart genug sein. Es könnte sein, dass du eine Achterbahnfahrt erlebst und Gegenwind erfährst. Familienangehörige und Freunde mögen deinen neuen Lebensstil möglicherweise nicht. Sie werden vielleicht sogar versuchen, dich aufzuhalten und werden dich zur Vernunft bringen wollen.
Warum solltest du es trotzdem tun? Fragst du dich jetzt.
Aufgrund des oben erwähnten Leuchten in den Augen deines Kindes, die unvergleichliche Belohnung, wenn du dein Kind glücklich aufwachsen siehst, als ganze, unverletzte Persönlichkeit.
Einfach damit du selbst glücklich bist. Im Hier und Jetzt.
4. WERTEFREIHEIT: wow, das ist hart!
Solange du der Meinung bist, dass eine Aktivität mehr Wert ist als eine andere, z.B. ein Buch zu lesen besser ist als Computer zu spielen, wird keine Unschooling-Magie passieren.
Du hast die Verantwortung nicht abgegeben, du versuchst immer noch, das Lernen deines Kindes zu kontrollieren.
Damit einher geht ein weiterer überaus wichtiger Faktor: Respekt. Respektiere die Entscheidungen deines Kindes. Wenn du sie nicht tolerieren kannst, sprich mit ihm darüber. Erkläre ihm deinen Standpunkt, zeig ihm deine Ängste und Sorgen. Du bist der Elternteil und manchmal, ja, weißt du es besser, denn du hast deine Erfahrungen bereits gemacht.
Dein Sohn oder deine Tochter möchten es vielleicht trotzdem versuchen, und du solltest sie lassen (Wenn sie sich selbst oder anderen dabei keinen ernsthaften Schaden zufügen). Jeder muss seine eigenen Fehler machen. (Ja, ich hasse diesen Gedanken auch!)
Dies bedeutet auch, frei von Erwartungen zu sein.
Erwartungen sind nur in deinem Kopf und können von niemandem, insbesondere nicht von deinen Kindern, erfüllt werden. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie es sich anfühlte, als ich als Heranwachsende mit großen Erwartungen erdrückt wurde wer ich zu sein hätte und wer ich werden sollte. Manchmal fühlte ich mich überhaupt nicht mehr in der Lage, mich zu bewegen und hatte Angst, alles falsch zu machen.
Belaste deine Kinder nicht mit deiner eigenen Geschichte.
Sieh sie stattdessen als Chance, sich neu zu erfinden und eine neue Realität zu schaffen, in der alles möglich ist.
5. Übernimm VERANTWORTUNG:
Du könntest jetzt denken, ich widerspreche mir.
Ich habe dir gerade gesagt, dass du alle deine Vorstellungen von traditioneller Erziehung loslassen solltest, um dir jetzt zu sagen, dass du die Verantwortung übernehmen musst.
Ja. Und ich sage dir auch warum.
DU bist das Elternteil. Du zeigst den Weg. Du bist das wichtigste Vorbild für dein Kind.
Kinder hören nicht, was wir sagen, sondern kopieren, was wir tun. Du arbeitest immer noch in einem Job, den du nicht ausstehen kannst? Du lebst nicht deine Träume? Du beschuldigst andere, nicht erfolgreich zu sein? Du ignorierst deine Bestimmung und deine innere Stimme? Erwarte nicht, dass deine Kinder ihre Reise in ein selbstbestimmtes Leben beginnen, wenn du immer noch die Rolle des Opfers spielst und andere für dein Versagen verantwortlich machst.
Sie werden deinem Beispiel folgen.
6. STRUKTUR erstellen:
Vielleicht denkst du jetzt noch einmal, dass dies genau das Gegenteil von dem ist, was ich oben schon gesagt habe.
Das ist der Grund, warum dieser Punkt kein Widerspruch zu Unschooling ist:
Wir brauchen alle die richtige Struktur in unserem Leben. Einige von uns mehr, andere weniger. Wenn du völlig frei bist, was immer zu tun, wann- und wieimmer du das möchtest, fühlst du dich leicht verloren, besonders wenn du gerade erst anfängst.
Erstelle ein Netz, einen Rahmen, der mit dem gefüllt wird, was du und deine Kinder tun möchten. Mach einen Tages-, Wochen-, Monats-Plan, führ eine Routine ein, verwende regelmäßige Rituale, verteile die täglichen Aufgaben. Finde heraus, wie breit oder eng der Rahmen für dich und deine Familie passt, spiele und experimentiere damit.
Mach dein Kind zu einem Teil des wirklichen Lebens. Vertrau ihm Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Jobs an. Zeige ihm möglichst viel von ihrer Umgebung, kulturell und sozial. Du wirst es mit wertvollen Fähigkeiten ausstatten, die es für den Rest seines Lebens brauchen kann.
Pass eure Struktur an alle an, einschließlich an dich selbst und deine eigenen Bedürfnisse.
Mach manchmal Platz für Ausnahmen (siehe Punkt 3.).
7. MITMACHEN: Sei ein Teil der Reise.
Sei neugierig, probier neue Dinge aus, mach etwas, was du schon immer machen wolltest.
Sei leidenschaftlich, teile deine Leidenschaften. Zeig deinem Kind, was dich zum Kribbeln bringt.
Sei Teil seiner Leidenschaften, ohne dich einzumischen. Seine Projekte gehören nicht dir!
Hab Spaß mit deinem Kind, lache und kichere und tanze und rolle im Sonnenschein den Hügel hinunter.
Hab lange Gespräche, diskutiere alles von der Wettervorhersage bis zu den neuesten Entwicklungen in Fernost. Schätze seine Gedanken und Ideen dazu. Sei offen für Kontroversen.
Suche gemeinsam nach Antworten auf Fragen, auf die du keine Antwort hast. Versuch nicht, ihm deine Antworten aufzudrängen.
8. Finde UNTERSTÜTZUNG: Wenn es sein muss, bau ein Netzwerk auf.
Auch wenn du ein Einzelgänger bist, der nicht an Gruppenaktivitäten interessiert ist, empfehle ich diesen Punkt ganz besonders für Neulinge.
Finde Gleichgesinnte, suche nach Unschooling-Gruppen in deiner Region, tritt einem Netzwerk bei oder beginne ein eigenes. Es wird nicht nur viel einfacher für dich sein, wenn die Zeit kommt, wenn du Fragen hast oder deine Entscheidungen in Frage stellst (und dies wird geschehen). Es wird auch viel mehr Spaß für dein Kind sein, sich als Teil einer größeren sozialen Gruppe zu sehen (Hier ist es, das Argument Nummer 1 gegen Unschooling!).
Die meisten Schulkinder haben außerhalb der Schulzeit nicht mehr viel Zeit für soziale Kontakte (und dürfen dies nicht in der Schule tun). Es wird manchmal schwierig sein, genügend soziale Kontakte für dein Kind zu finden, zumindest zu anderen Kindern in seinem Alter (Es kann aber jederzeit mit Menschen jeden Alters interagieren – dies ist einer der schönsten Aspekte der ganzen Sache).
Plane gemeinsame Aktivitäten, bilde eine kleine regionale Unschooling-Gruppe, organisiere Treffen und Parties. Dies kann leicht zu vielen neuen Freunden führen, zum Reisen anregen, ihr lernt neue Orte kennen, neue Sprachen und Kulturen und das Ganze bietet unzählige „Lernmöglichkeiten“.
Oder informiere dich und sei Teil der bereits in deinem Land bestehenden Unschooling-Communities. Du wirst überrascht sein, was du finden wirst, das verspreche ich dir.
Schau dich um nach gemeinsamen Nachmittagsaktivitäten, Sportvereinen, Interessensgruppen. Melde dein Kind in der Volkshochschule an oder was auch immer du in deiner Nähe finden kannst (natürlich nur, wenn es daran interessiert ist).
Hilf ihm, andere Menschen zu finden, die sein Interesse teilen, einen Mentor – oder einen Lehrer – jemanden, zu dem es aufblicken und von und mit ihm lernen kann. Dies kann im Grunde jeder sein, der liebt, was er tut, vom Automechaniker an der Ecke bis zum Künstler, der in deiner Nachbarschaft lebt.
Sei Teil deiner unmittelbaren Gemeinschaft vor Ort. Entfremdet euch nicht von der Kultur, in der dein Kind aufwächst. Tragt zu eurer Nachbarschaft bei, wir alle können voneinander lernen.
9. Übe dich in GEDULD: ein weiterer schwieriger Punkt für mich…
Wunder werden nicht über Nacht geschehen.
Besonders wenn deine Kinder zuvor in der Schule waren. Gib dir und ihnen Zeit für den Deschoolingprozess, der sogar einige Jahre dauern kann. Es kann dir helfen, andere Familien in derselben Situation zu finden oder dich in der Literatur über Deschooling zu informieren, um dich zu beruhigen.
Selbst wenn dein Kind noch nie formell unterrichtet wurde, kann es einige Zeit dauern, bis es sich an die Situation gewöhnt hat. Es wird Zeiten geben, in denen es NICHTS tun wird. Es wird schwer für dich sein, es zu beobachten und ebenso nichts zu tun (außer 1. und 2.).
Lerne geduldig zu sein.
Dies wird mit Übung und im Laufe der Zeit einfacher (wenn du feststellst, dass dein Kind IMMER lernt – und gar nicht wenig!).
Du kannst NIE wissen, was im Kopf eines Anderen vorgeht, aber ich garantiere dir, es ist niemals NICHTS. Kinder brauchen die Zeit, um sich zu langweilen, um einfach nur zu sein, Dinge zu verarbeiten und Sinn draus zu machen. Um eine eigene Struktur und ein eigenes System zu schaffen, das sie den Rest ihres Lebens nicht vergessen werden (im Gegensatz zu abstrakten Schullehrplänen).
10. Zu guter letzt: HAB SPASS!
Vergiss nicht, dass es Spaß machen soll, es ist deine Zeit und dein Leben.
Denke regelmäßig über deine spezifische Situation nach und prüfe ständig, ob diese Lebensweise noch zu dir und deinem Kind passt.
Unschooling ist nicht jedermanns Sache und das ist völlig in Ordnung.
Es ist ein Lebensstil, den die gesamte Familie mittragen muss.
Unschooling hat viele positive Aspekte, aber natürlich hat es auch ein paar Nachteile (was nicht?).
Was auch immer du für dich und deine Familie entscheidest, informiere dich zuerst über deine Möglichkeiten. Triff eine bewusste Entscheidung für den von dir gewählten Weg.
Hab keine Angst, wenn der Pfad vor dir nicht deutlich sichtbar ist. Er entsteht beim Gehen.
Erwarte nicht, dass jemand alle Antworten für dich hat, es gibt KEINE Anleitung fürs Unschooling – oder das Leben selbst.
Beginne mit kleinen Schritten.
Ein Tag nach dem anderen.
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