„Frei sich bilden“

„Frei sich bilden“ *

„Frei sich bilden“ – eine Haltung und Lebenseinstellung, die uns seit geraumer Zeit in ihren Bann gezogen hat und uns zutiefst erfüllt und begeistert. Besonders in Momenten, wo unsere jüngsten Söhne (3 und 5) in unglaublicher Ausdauer und Konzentration, sowie Eifer und Ernsthaftigkeit in ihr freies Spiel versunken sind und über sich hinauswachsen – sowie es in „angeleiteten“ oder „instruierten“ Spielsituationen niemals der Fall sein könnte.

Ihre älteren Geschwister (15, 17) sitzen derweilen in der Schule und lassen sich zu so manchen Themen anleiten, die so ganz und gar nicht ihrer intrinsischen Motivation entsprechen – aber sie haben sich im Laufe der Jahre arrangiert – mit Konkurrenzdenken, Leistungsdruck, ständigem Vergleich und für Tests und Schularbeiten möglichst wenig aber gerade noch genug zu lernen. Viele Themen, für die sie in ihrer Kindheit noch große Begeisterung zeigten, haben sich immer mehr verflüchtigt, wie Rauch im Wind. Und so Vieles, dass sie in der Schule lernen mussten, ist in Vergessenheit geraten – lt. Hirnforschern sogar um die 80 Prozent – es hat sie einfach nicht begeistern bzw. berühren können – so sehr sie sich auch bemühten, wiederholten und übten!

Diese Begeisterungsfähigkeit, die sich bei unseren jüngsten Kindern, die noch unbeeinflusst von frühkindlichen Bildungseinrichtungen aufwachsen konnten, jeden Tag unzählig oftmals zeigt – diese zu erhalten, stellte u.a. einen der ersten Wegweiser dar, die uns zum „Frei sich bilden“ führten.

Der Versuch einer Definition

Aber „Frei sich bilden“ – was ist das eigentlich? Ich tue mich jedes Mal aufs Neue schwer, es interessierten Mitmenschen zu beschreiben und merke dabei auch immer wieder, dass es keine allgemeingültige Definition geben kann – so fallen dann auch meine Definitionen von Mal zu Mal unterschiedlich aus. „Frei sich bilden“ ist so individuell und gestaltet sich bei jedem kleinen und großen Menschen auf eine etwas andere Art.

„Die Welt ist das Klassenzimmer, die Mitmenschen die Lehrer und das Leben ist die Schule“ – diesem Satz, den ich einmal in einem Buch übers „Frei sich bilden“ gelesen habe – wohnt meines Erachtens wunderbar viel Prägnanz und Aussagekraft inne.

Eine große anfängliche Herausforderung stellte die Umgewöhnung dar, dass Lernen bzw. Bildung eben nicht – wie von jeher gewöhnt – in formellen Unterrichtsstunden, Lehrbüchern, Wiederholungen, Prüfungsverfahren etc. stattfindet (inwieweit Schule überhaupt etwas mit Bildung zu tun hat – dies zu beurteilen, sei jedem selbst überlassen!).

Der praktische Umgang

Wir als Familie versuchen die passenden Rahmenbedingen (Ort, Material, Menschen mit Vorbildfunktion, die durch ihre Tätigkeiten Lernmodelle bieten, Rhythmus und Struktur…) zu schaffen, die es den kleinen und großen Menschen ermöglicht, ihre Begeisterungsfähigkeit, Entdeckerfreude und einfach ihre Zufriedenheit mit dem Sein weiter leben zu können. Unsere jüngsten Söhne wollen dabei natürlich genau das machen und erleben, was auch wir als große Menschen tun – dies beinhaltet vor allem lebensnahes Lernen, fernab von künstlich geschaffenen „Bildungsinstitutionen“. Sei es das tägliche Kochen, Staubsaugen, Gartenarbeiten, Schreiben und Lesen, Einkaufen, handwerkliche Tätigkeiten oder Aktivitäten wie Ausflüge, Reisen, Museums-, Theater- oder Schwimmbadbesuche, Treffen von Freunden bzw. befreundeten Familien, Puzzles bauen, Vorlesen, Gesellschaftsspiele spielen, Malen und Zeichnen, Tonarbeiten, Waldbesuche, Tiere versorgen uvm.
Seit kurzem beherbergt unser Haus sogar eine weitere Familie, die den Weg des „Frei sich bildens“ geht, aus deren Symbiose sowohl die kleinen als auch die großen Menschen wunderbar und reichlich schöpfen können.

Wenn ich darüber nachdenke, was alleine heute an diesem sonnigen Wintertag der von unseren Söhnen selbst ausgewählte und -bestimmte „Frei sich bilden – Tag“ beinhaltete, fallen mir folgende „Lernthemen“ bzw. dafür eingesetzte Utensilien ein: Bücher zum Anschauen und Vorlesen, Papierflieger bauen und mit Wachsmalstiften bemalen, Gemüse schneiden, Hund, Katzen und Ente füttern, Räuberhöhle im Wohnzimmer und im Garten bauen, mit der Spitzhacke arbeiten, Astscheren, Lineal, Youtube Video übers Geigespielen, Bausteine, Lego, Besen und Schaufel, Wasser und Erde, Gießkannen und Gartenschlauch zum Entleeren und Befüllen des Ententeichs, Akkubohrmaschine und verschiedene Bohrer und Einsätze, Schaufeln, Hochleistungsmixer und Entsafter, Messer, Stirnlampen, Schneckenhäuser, Wasserrinnen, „Schleich“ – Tiere… und noch vermutlich weitere hunderte Dinge… und ganz nebenbei „schulen“ sie sich automatisch in sozialer Kompetenz, Problemlösestrategien oder den Kulturtechniken – und das alles auch noch mit Begeisterung, Freude und authentischer Hingabe.

Ihre Stärken stehen im Vordergrund und defizitorientiertes Denken versuchen wir gar nicht erst aufkommen zu lassen – auch wenn wir als Eltern, die wir gerade am Anfang unseres Entschulungsprozesses stehen – diesbezüglich noch viel zu lernen haben. Stetig weiten unsere Söhne ihre Interessen aus und nutzen ihr angelegtes Potenzial – Andre Stern spricht diesbezüglich ja so schön von Kindern die als Potenzialbomben auf die Welt kommen! – und alles was sie sich neu aus ihrer intrinsischen Motivation heraus selbst beibringen bzw. „lernen“ wird mit positiven Gefühlen verbunden. Wir als Eltern sehen uns weiters als Begleiter, die einerseits Vorbildfunktion haben und vor allem immer für sie da sind, wenn sie uns benötigen. Wir versuchen ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit zu erfüllen und schenken ihnen bedingungslose Liebe und Vertrauen.

Die Sache mit der Sozialisation

Apropos Soziale Kompetenz bzw. Sozialisation: Wir sind der festen Überzeugung, dass wir Menschen von Geburt an soziale Lebewesen sind und Sozialisation nicht erst in Institutionen wie der Schule gelernt werden muss – und Schule im Grunde genommen mit unserer Vorstellung von einer guten Sozialisation nur wenig zu tun hat – wo Anpassung, Normierung, das Gegeneinander, Rangordnung und immer wieder Mobbing und seelische (auch körperliche) Gewalt an der Tagesordnung steht.

Ganz im Gegenteil erleben wir immer wieder nicht nur unsere „frei sich bildenden“ jungen Menschen als rücksichtsvoll, hilfsbereit, offen und herzliche Individuen – bei denen das Miteinander und nicht Ausgrenzung im Vordergrund steht. Unsere Söhne machen keinen Unterschied zwischen Rasse, Religion und Kultur anderer Menschen und manchmal glaube ich zu spüren, dass sie es noch fühlen, Teil einer universellen Wahrheit zu sein, die alle und alles verbindet.

Wir versuchen sie jeden Tag spüren zu lassen, dass sie genau richtig sind, so wie sie sind, wir sie ohne Wenn und Aber lieben, genauso wie sie sind und dass das Vertrauen ins Sein gegenüber Erziehung und Werden immer siegen wird!

*ich benutze hier den Begriff „frei sich bilden“ anstatt „freilernen“ oder „unschooling“ und halte mich diesbezüglich an Bertrand Stern, der damit das Rückbezügliche dieses Prozesses hervorhebt: das „sich bilden“ ist nicht an Ziele, Zwecke, Formen gebunden und das an den Anfang gesetzte „frei“ beschreibt die Qualität des „sich bildens“.

Wer mehr über das „Frei sich bilden“ erfahren möchte – hier ein paar aktuelle Bücher, die ich vorbehaltlos empfehlen kann und aus denen auch Inspirationen zu diesem Artikel eingeflossen sind:

  • Saat der Freiheit – Impulse für aufblühende Bildungslandschaften (Akt), Bertrand Stern
  • Wir sind so frei: Freilerner-Familien stellen sich vor, Herausgeber: Kern Karen, Stefanie Mohsennia, Gabi Reichert, Heike Weimer
  • Das große Unschooling Handbuch: Freilernen: Die ganze Welt als Klassenzimmer, Mary Griffith
  • Frei sich bilden: Entschulende Perspektiven, Bertrand Stern
  • Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben, André Stern
  • Wer sein Kind liebt …: Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt, Franziska Klinkigt

Josef Wagner